Perlensamt
vergessen. In Paris aber kennt ihn jedes Kind. Gerade ist eine umfangreiche Biographie über ihn erschienen.«
Ich schlug David vor, nach draußen zu gehen und etwas Luft zu schnappen. Auf der Straße wurden wir von feuchtem Herbstwetter überrascht. Der Sprühregen verdarb uns die Lust am Spaziergang. Ich steuerte Davids Lieblingsrestaurant an, das ganz in der Nähe war. Wie ein Kind, das sich nur allzu bereitwillig trösten läßt, zog David seinen Schal fester um den Hals, nickte und folgte mir. Als wir über dem ersten Glas Wein und den Speisekarten saßen, sah David mich dankbar an. Er tastete über den Tisch nach meiner Hand, und ich brachte es nicht fertig, sie ihm zu verweigern. Ich glaube nicht, daß es jemand sah. Als das Wiener Schnitzel kam, hatte ich den Eindruck, David von seinem nervösen Eifer abgelenkt zu haben. Aber ich täuschte mich. Was an diesem Abend noch folgte, kam einem Geständnis gleich und verwirrte mich dermaßen, daß ich mich veranlaßt sah, Nachforschungen anzustellen …
Das Urteil über den Mann, den David mir als seinen Großvater offenbarte, wurde am 22. Juli 1949 vom Militärgericht in Paris verhängt …. est-il constant que, dans les circonstances de temps et de lieu … ist unter den zeitlichen und örtlichen Verhältnissen davon auszugehen , so fragte das Protokoll, das ich im Auswärtigen Amt einsehen konnte, bei jedem Anklagepunkt, daß der genannte Otto Abetz, kein Militär, deutscher Nationalität, zu jener Zeit an jenem Ort im Dienst der feindlichen Administration tätig, schuldig oben genannter Vergehen ist? Anklage und Urteil stimmten mit dem überein, was ich von David erfahren hatte: Kunstraub, Mord, Plünderung, Anregung zu antisemitischer Propaganda, Deportation von Juden und Mitgliedern der Résistance. Daß Abetz nicht in Nürnberg angeklagt worden war, sondern vor ein französisches Gericht kam, besagt, daß er nicht zum nationalsozialistischen Führungsstab zählte. Wie viele Menschen auch immer er gedemütigt und in den Tod geschickt, wie viel Kunst er geraubt und verschleppt hatte: Man befand ihn nicht für wichtig genug, die Anklagebank mit Göring, Speer und Ribbentrop zu teilen. Er war ein Quereinsteiger, keiner aus dem Corps der Karrierediplomaten. Bemerkenswert war, daß laut Zeugenaussagen selbst Leute, denen die Nazis zuwider waren, ihn mochten. Später las ich noch mehr über Otto Abetz, zum Beispiel, daß er Kunstlehrer in Karlsruhe gewesen war. Dabei fiel mir dann auf, daß David sich mehrfach irrte in dem, was er über seinen Großvater erzählte. Seltsam eigentlich, daß er diese Unstimmigkeiten nie bemerkt hatte – gerade weil er den Scherz mit dem Wein des öfteren wiederholte. Denn als der Wein auf die Flasche gezogen wurde, saß Otto Abetz längst nicht mehr im französischen Knast. Er war bereits tot. Umgekommen bei dem Unfall in Langenfeld.
DREIZEHN
David hatte plötzlich das Besteck hingelegt. Jener Eifer, den ich für besänftigt gehalten hatte (inzwischen kannte ich Davids emotionales Auf und Ab), stellte sich übergangslos wieder ein. David begann erneut zu reden, als ginge es um seinen Kopf.
»Du mußt dir vorstellen, daß Großvater eigentlich eher Künstler war als Diplomat. Er besuchte die Akademie und hat früher gemalt. In seinem Herzen war er wohl mindestens so sehr Franzose wie Deutscher. Er hat sich schon früh für die deutsch-französische Verständigung eingesetzt. Ich glaube, er war besessen von dieser Idee. Sein Glück oder Unglück war, daß er nicht zur Garde der alten Diplomaten gehörte. Hitler, der nur Deutsch sprach, fürchtete sich vor dem internationalen Parkett. Außerdem sind die Leute aus dem Auswärtigen Amt damals tatsächlich ein arroganter Haufen gewesen. Viele von ihnen hielten sich zugute, gegen Hitler gewesen zu sein. Allerdings handelte es sich dabei eher um Standesdünkel als um Widerstand. Für dich ist es vielleicht nicht vorstellbar, daß es damals in Deutschland noch ein hierarchisches Denken gab. Ribbentrop und mein Großvater brachten dazu noch eine virtuose Fremdsprachigkeit mit. Das machte sie in Hitlers Augen interessant.«
David sprach hitzig. Ungereimtheiten häuften sich. Er merkte nichts davon. Nachdem er erzählt hatte, daß sein Großvater zehn der zwanzig Jahre hinter Gittern verbrachte, erwähnte er plötzlich, er hätte seinen Großvater kaum noch gekannt. Aber wie, wenn der in Frankreich im Gefängnis saß, hätte David ihn überhaupt kennen können? Er erwähnte mit keinem
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