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Perlensamt

Perlensamt

Titel: Perlensamt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bongartz
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Wort, wann er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er betonte, dass er das meiste, was er über ihn wüßte, aus Erzählungen, vor allem aber aus Büchern hätte. In großen Zügen stimmte, was David sagte, mit dem überein, was ich später über Abetz las. Aber Persönlicheres als das schien David nicht zu wissen.
    »Es ist sicher nicht leicht für dich, nachzuvollziehen, was ich meine. Dort, wo du herkommst, gibt es ja keinen Grund, nicht unbefangen über die Vergangenheit zu reden.«
    In mir zog sich etwas zusammen. Ich sah Photos aufblitzen vor meinem inneren Auge, Reportagen, die jeder kennt. Vietnam, ein anderes Wort für Wahn. Abbildungen, bunt und schwarz-weiß, manchmal pathetisch orchestriert, als würde das Grauen sich anders nicht vermitteln. David merkte nichts von meiner Befremdung. Er sprach einfach weiter, vollkommen auf seine Geschichte fixiert. Die Zeit schien für ihn stillzustehen.
    »… wahrscheinlich bist du mit deinen Eltern oder Großeltern in die Normandie gereist, an die Küste der großen Invasion. Statt beschämt zu schweigen, habt ihr eure gefallenen Helden gefeiert.«
    »David, meine Mutter stammt aus Deutschland. Ich habe keine Verwandten, zumindest keine, die ich kenne, die gegen die Nazis gekämpft haben.«
    »Wir Nachkommen der Nazis sind mit Schweigen aufgewachsen. Schweigen, das in der Generation meines Großvaters begann, in der Generation der Täter. Aber die Opfer, heißt es, schwiegen auch. Und unsere Eltern, die Kinder der Täter und der Opfer schwiegen weiter, nicht alle vielleicht, aber die meisten. Wenn ich meinen Vater nach Großvater fragte, sah er mich an, als hätte ich keinen gehabt. Mein Vater benahm sich, als sei er vom Himmel gefallen.«
    Vom Himmel gefallen. Na, gut, warum denn nicht? Auch ich war vom Himmel gefallen. Was war daran nicht in Ordnung? War es so wichtig, zu wissen, wer der Großvater, wer der Vater war?
    Als David begonnen hatte, bewußt unter der Situation zu leiden, war ihm nicht klar, daß sein Vater noch mehr gelitten haben mußte. Er hatte nicht gewußt, daß da etwas war. Tatsächlich war er es, der aus den Wolken fiel, nicht sein Vater. Er hielt seinen Vater für feige, warf ihm vor, ihn über seine Herkunft und den Namen belogen zu haben. Erst später begriff er, daß sein Vater unter Taten litt, die er nicht begangen hatte. Warum sonst hätte dieser Mann den Namen der Familie aus der Familie verbannt? Die Erfindung, der Kauf einer alten Firma, die sein Patent produzieren sollte, war gleichermaßen gesellschaftliches wie privates wie geschäftliches Kalkül. Für Alfred Perlensamt war es immer selbstverständlich gewesen, daß er nie unter seinem wirklichen Namen firmieren wollte. Seine chemische Erfindung war auch die Erfindung einer neuen Familie. David war die ersten Jahre seines Lebens in dem guten Glauben aufgewachsen, daß alles seine Richtigkeit habe. Dann, eines Tages, er erinnerte sich, als sei es gestern gewesen, sei die Blase, die ihn wie eine zweite Gebärmutter umgab, geplatzt. Er hatte im Internat seine erste französische Klausur zurückbekommen, ein Volltreffer mit der Note sechs.
    »Perlensamt, oder sollte ich besser sagen: Abetz, Sie sind ein Schwindler, ein Blender«, hatte der Französischlehrer Bernstein die Arbeit kommentiert. »Sie gehören zu den Individuen, bei denen man sich automatisch fragt, ob sie eine zweite Chance verdienen. Sie teilen offenbar die Sprachbegabung Ihres Großvaters nicht. Wollen wir hoffen, daß Sie auch nicht seine Weltanschauung teilen. Zwangsarbeit gibt’s zwar heute nicht mehr, aber der deutsche Staat hat inzwischen andere Möglichkeiten, mit Leuten Ihrer Sorte fertig zu werden.«
    Abetz? Wer war das? David hatte rein gar nichts verstanden. Ein fast fehlerfreier Aufsatz hatte ihm einen erschütternden Tadel eingebracht. Und was hatte die Behauptung, er hieße ganz anders, zu bedeuten?
    Er rief zu Hause an. Seine Mutter besuchte ihre Schwester in Afrika. Sein Vater war auf Geschäftsreise in Moskau. David war mit den rätselhaften Anschuldigungen allein. Niemand hatte ihm gesagt, daß er seinem Großvater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Er verstand nicht, wieso der Französischlehrer mehr über ihn wußte als er selbst. Erst recht ahnte er nicht, was sich hinter dem deutschen Namen Bernstein verbarg oder überhaupt verbergen konnte. Seine Eltern hatten kein Wort verloren über eine dunkle Geschichte. Wie hätte er Aufklärung über ein Familiengeheimnis erbitten sollen, von dem er gar nicht

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