Perlensamt
Hochzeit gesagt. Wenn es so war, dann machte sie sich jedenfalls nicht viel daraus. Und wenn ich meinem Großvater nicht so verdammt ähnlich gesehen hätte, nicht auf diesen Bernstein gestoßen wäre, wäre der Schwindel vielleicht nie aufgeflogen.«
»Aber die Presse – sie ist nicht drauf gekommen, nicht wahr? Ich meine jetzt, im Zusammenhang mit, mit dem …«
»… der Verzweiflungstat?«
»Ja, es hat nirgendwo gestanden. Jedenfalls habe ich nichts gelesen davon.«
»Mein Großvater war kein Ribbentrop. Sein Gesicht ist kein öffentliches gewesen, keines, das Seiten füllend durch die Presse ging. Ich selbst habe nur ein einziges Photo von ihm gesehen – in einem Buch. Die Aufnahme wurde aus großer Entfernung gemacht. Ein Mann in Nazi-Uniform, langem schwarzen Mantel mit weißem Revers, kommt eine Freitreppe hinab. Niemand hätte ihn darauf erkannt. Es brauchte schon eine konkrete Person, die sich aus persönlichen Gründen kundig machte, um Verbindungen herzustellen und Ähnlichkeiten zu entdecken. Es brauchte Bernstein. Ich dachte lange, daß es reiner Zufall gewesen sei. Heute bin ich mir sicher, daß das die Antwort des Schicksals war.«
»Du spinnst. Du steigerst dich da in was rein. Warum machst du nicht Schluß mit diesem Unsinn? Die ganze Geschichte ist die fixe Idee eines Nazi-Opfers gewesen. Du bist in diese Sache geraten ohne jede Schuld. Vergiß es. Mit Schicksal hat das nichts zu tun. Es gibt kein Schicksal.«
»Was glaubst du, wie wir uns kennengelernt haben? War das kein Schicksal?«
David wechselte tatsächlich das Internat. Nichts geschah mehr. Aber seine Angst, erneut entdeckt zu werden, saß tief. Er wechselte die Schule ein zweites, ein drittes Mal. Er schämte sich, verkroch sich, wurde einsam. Diese Anwandlungen hielt er für verwerflich, geradezu unmännlich. Ein Kreislauf begann. David zog sich zurück. Er wollte ein anderer sein. Er suchte nach Rollen. Auf diese Weise entstand sein Traum, Schauspieler zu werden.
Schließlich gewöhnte er sich an, daran zu denken, daß es andere Kinder und Enkel von Tätern gab, die schwerer an der Last der Geschichte zu tragen hatten als er.
»Der Unfall geschah, weil die Bremsen blockierten. Man nimmt an, es war ein Attentat. Es muß schrecklich gewesen sein, wie Großmama aus dem Auto geschleudert wurde.«
»Ich habe als Kind einmal einen Unfall gesehen, bei dem Ähnliches geschah. Auf einer Straße von Düsseldorf nach Köln.«
»Aber es geschah genau da! Du hast es gesehen? Du hast gesehen, wie meine Großeltern umgekommen sind?«
»Unsinn. Ich habe irgendeinen Unfall gesehen. Ich kann mich kaum daran erinnern. Ich war ganz klein, drei oder vier. In meiner Erinnerung sehe ich einen Feuerball und sonst nichts.«
»Und du meinst immer noch, daß es kein Schicksal gibt.«
Für einen Augenblick stand ich noch einmal am Rand der Straße. David stand neben mir. Ich erwachte aus meiner Trance, als David mich berührte. Erst da fiel mir ein, daß David den Unfall seiner Großeltern nur aus Berichten kannte. Ich war auf dem besten Weg, so durcheinander zu geraten, wie David es war.
»Es gibt etwas, das uns auf immer verbindet – das uns immer schon verbunden hat«, sagte er.
»Du entschuldigst mich einen Augenblick.«
Am Tisch zurück trank ich mein Glas aus und bat um die Rechnung. Wir rangelten darum, wer bezahlen durfte. Während ich die Scheine hinblätterte, konnte ich seine Unruhe spüren. Dann gab er sich einen Ruck, als müsse er den Motor antreten, um zu einer bestimmten Zeit am rechten Ort zu sein. Dieser Drang, der ihn manchmal überfiel, gepaart mit heillosem Eifer.
»Ich hätte eine Bitte.« Er legte seine Hand auf meinen Arm und sah mich dabei an. »Würdest du heute bei mir übernachten?«
Seine Frage befremdete mich. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Ich hätte gern nein gesagt.
»Nur diese eine Nacht. Bitte.«
VIERZEHN
Draußen erwartete uns der gleiche Nieselregen wie am frühen Abend. Mir war kalt. Die Vorstellung, in einem fremden Bett zu schlafen und am nächsten Morgen in einer fremden Umgebung aufzuwachen, in ein anderes als mein Badezimmer zu gehen und nicht meine Schranktür zu öffnen, um vor meinen Klamotten zu stehen, machte mich nervös. Aber dann spürte ich auf einmal eine so gewaltige Müdigkeit, daß mir alles egal war. Hauptsache ein Bett. Mein Fahrrad stand ohnehin noch im Hof der Fasanenstraße.
Während wir die Treppe zur Wohnung Perlensamts hinaufgingen, geisterten mir einige wirre
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