Perlensamt
Wer es gewesen ist? Er selbst. Er hat sich selbst getötet. Anders wäre es doch gar nicht möglich gewesen.« Mir fiel ein, daß niemand erwähnt hatte, wie. Als gäbe es in einer Zelle nur eine einzige Möglichkeit, sich umzubringen. »Es tut mir leid, Frau Abèz, es muß schrecklich für Sie sein. Erst das Unglück mit Ihrer Schwägerin, nun Ihr Bruder.«
Sie fuhr mich zornig an: »Ich habe Ihnen schon in Berlin gesagt, daß es kein Unglück war.«
»Es war ein Schock für David. Wir mußten einen Arzt holen. Er war vollkommen außer sich.«
Ihre Stimme hatte sich beruhigt. Aber sie atmete immer noch heftig. »Ist es wirklich wahr, was Sie da sagen? Nicht wahr, Sie machen keinen schlechten Scherz?«
Sie hatte sich in ihrem Sessel aufgerichtet und sah mich durchdringend an. In ihrem Rücken zwinkerte mir die Spitze des Eiffelturms zu.
»Natürlich nicht. Er ist tot. Ich weiß es nicht genau – ich nehme an, er hat sich erhängt.«
Edwige fuhr sich durchs Haar, zupfte an ihrer Kleidung, nippte an ihrem Wein und ließ sich wieder zurück in den Sessel gleiten. Lange währte die Erleichterung nicht. Als ich ihr sagte, bei der Staatsanwaltschaft läge ein Briefumschlag, den ihr Bruder für mich hinterlassen hätte, schreckte sie erneut auf.
»Sie müssen mir unbedingt sagen, was dieser Brief enthält. Es ist sehr wichtig für mich. Ich muß es wissen, bevor David es erfährt. Ich muß wissen, was Maurice geschrieben hat.«
Maurice. Sie nannte den ursprünglichen Namen ihres Bruders. Maurice? Ich hatte vollkommen vergessen, daß sie bei unserem Gespräch in Berlin schon von ihrem Bruder als Maurice gesprochen hatte. Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht. Zu jener Zeit wußte ich nur, daß Davids Vater seinen Namen geändert hatte. Aber ich wußte noch nicht, daß Davids Großvater Otto Abetz gewesen war. Der Sohn von Otto Abetz hieß doch mit Vornamen Bernhard, nicht Maurice. Und seine Tochter … Edwiges Stimme klang flehend.
»Ich hatte Ihren Bruder auf Davids Bitte im Gefängnis besucht. Er schien mir verwirrt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Umschlag etwas ernst zu nehmendes enthält.«
Ich versprach ihr, sie sofort zu informieren. Als ich mich verabschieden wollte, ließ Edwige mich kurz allein und kam mit einem verschnürten Päckchen zurück.
»Ich hatte das für Sie vorbereitet. Es sind Briefe von David an mich. Vielleicht verstehen Sie ihn dann besser. Bitte, lesen Sie sie.«
Sie schien mich um noch etwas bitten zu wollen, hob an, aber brachte den Satz nicht zu Ende.
»Melden Sie sich unbedingt wieder, wenn Sie in der Stadt sind.«
Sie gab mir ihre Visitenkarte, und wir reichten uns die Hand. Ihr Druck war länger als eigentlich üblich. Plötzlich drängte es mich, diese Frage zu stellen.
»Ach, wissen Sie, Menschen wie David, die so entwurzelt sind, neigen oft zu einer Art Schicksalsbezogenheit oder zu – esoterischen Anwandlungen. Als Anker. Aber ich denke nicht, daß er im engeren Sinne abergläubisch ist. Nein, er hat’s nicht wirklich mit den Sternen. Nehmen Sie das nicht ernst.«
Auf meine Erwiderung, David hätte es für Bestimmung gehalten, daß wir einander begegnet sind, reagierte sie amüsiert. Schon in der geöffneten Tür stehend, erzählte ich ihr, daß ich als Kind in der Nähe von Langenfeld einen Unfall miterlebt hätte der Art, wie er Davids Großeltern das Leben gekostet hatte. Edwige sah mich verständnislos an.
»Ich hatte keine Ahnung, daß Miriams Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind.«
»Nein, nicht die Eltern Ihrer Schwägerin. Ihre Eltern.«
»Was für ein Unsinn. Wie kommen Sie nur darauf?«
Kurz vor Mitternacht stand ich wieder auf der Plattform des Trocadéro und sah über das Marsfeld. Ich hielt das Päckchen mit den Briefen in der Hand. Wir hatten kein Wort über die Sammlung gewechselt. Sie hatte nur von David gesprochen. Es war, als hätte sie mich anheuern wollen.
Ich legte die gesamte Strecke zum Hotel zu Fuß zurück. Die nervösen Lichter des Eiffelturms begleiteten mich bis unter die nackten Äste der Platanen. Ich ging an der Seine entlang, vorbei an den Soldaten- und Veteranenstationen, an der Abgeordnetenkammer und dem Auswärtigen Amt. Der Boulevard St. Germain war wie leer gefegt, keine Menschenseele schien in der Gegend zu leben, die ihre modischen Zeiten längst überstanden hatte. Touristen hielten die Gegend zwischen Invalidendom und Quai d’Orsay für wenig interessant. Sie ahnten nichts von den verzauberten
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