Perlensamt
Gärten und grünen Innenhöfen hinter den massigen Steinfassaden. Es war eine gute Gegend, um in dieser Großstadt für sich zu sein. Ich ging, weil ich laufen mußte. Ich mußte laufen, weil ich die Reaktionen von Edwige nicht verstand. Warum mußte ich all das überhaupt verstehen? Erst jetzt fiel mir auf, daß ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Das Mittagessen im Flugzeug hatte ich ausgeschlagen. Ich hatte mich auf ein schönes Menu in meinem Lieblingsrestaurant gefreut. Nach dem Treffen der Anwälte war es für ein Abendessen zu früh gewesen. Dann hatte ich verschlafen und mich zu Edwige aufgemacht. Mein Magen fühlte sich hohl an. Die Innenwände brannten, ich war hungrig und appetitlos zugleich. Ich wünschte David in meiner Nähe, und doch fürchtete ich mich davor, ihn wiederzusehen: fürchtete seine Verachtung. Seine Launen. Seine Exaltiertheit. Sein Lachen. Seine werbende Sprache. Seinen Charme. Seine ausgewählte Kleidung. Seine aufschimmernde Zärtlichkeit. Ich stellte mir vor, wie er meinen Namen rief. Davids Stimme klang in meinem Ohr. Zurück im Hotel, fiel ich in einen unruhigen Schlaf.
ZWANZIG
Als ich die Wohnung von Davids Eltern betrat, kam ich mir wie ein Schnüffler vor. Daran änderte auch mein Auftrag nichts, den Nachlaß Alfred Perlensamts so lange zu verwalten, bis das Testament eröffnet war. Man hatte David eines schweren Fieberanfalls wegen ins Krankenhaus gebracht. Er hatte phantasiert, wirr gesprochen und war zwischendurch sogar in eine Art Koma gefallen. Mona kümmerte sich um ihn. Offenbar fühlte sie sich angezogen von seiner Hilflosigkeit, anders konnte ich mir ihr Engagement nicht erklären. Ich fühlte mich einsam in meiner Mission.
Der Umschlag, den mir die Staatsanwaltschaft aushändigte, war auf meinen Namen ausgestellt, darunter der Zusatz streng persönlich. Mehr als ein Zettel war nicht darin gewesen. Vor mir lodern die Flammen. Wie immer steht die Tür zum Garten offen. Die Lilien haben zu blühen begonnen. Ihr Duft durchdringt die unteren Räume. Madame Eugénie bügelt im ersten Stock. Ab und zu geht sie ans Telephon, um Anrufer abzuwimmeln. Ich lese die krakelige Handschrift noch einmal. Ich, Alfred Perlensamt, möchte neben meiner geliebten Frau Miriam beigesetzt werden, ohne Trauergesellschaft, ohne Zeremonie. Mein gesamtes Eigentum wird an meinem Sohn David Perlensamt übergehen, wie in einem gesonderten Testament verfügt, hinterlegt bei meinem Notar, Herrn Dr. Henning Schröters. Im Schreibtisch meines Arbeitszimmers (Bibliothek) befindet sich eine Mappe, die meine Initialen trägt. Ich bitte Sie, Herr Dr. Saunders, diese Mappe an sich zu nehmen und sie ungeöffnet mit meiner Leiche verbrennen zu lassen. Alfred Perlensamt, Strafvollzugsanstalt Berlin-Moabit, den …. Die Notiz klingt nicht, als sei sie von einem Mann mit verwirrtem Geist verfaßt worden. Der Zettel verbrennt innerhalb eines Augenblicks. Die Mappe liegt oben, in dem Fach, in dem meine Unterwäsche liegt.
Man hatte mir den Umschlag kommentarlos ausgehändigt, dazu die Wohnungsschlüssel. Zurück im Büro erzählte Mona, David ginge es besser, doch würde er noch einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen. Ich sagte, sie solle ihn von mir grüßen. Innerlich war ich erleichtert. Ich wollte Distanz zu David, und ich gebe zu, daß ich der Verfügung des Toten hauptsächlich deswegen nachkam, weil ich immer noch hoffte, Klarheit in Davids widersprüchliche Geschichte bringen zu können.
Der schwere Schlüsselbund erweckte den Eindruck, als habe der alte Perlensamt ein Faible für Schlösser gehabt – und das nicht nur an der Eingangstür, die drei davon hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich alle Schlüssel durchprobiert und die richtigen gefunden hatte. Die große Halle roch muffig. Ich öffnete die Fenster und ließ die kalte Luft herein. Die Portieren bewegten sich im Windhauch wie Gewänder tanzender Figuren. Draußen roch es nach Schnee.
Ich sah mir nacheinander die Räume an. Trotz meiner zeitweiligen Vertrautheit mit David kannte ich nicht die ganze Wohnung. Auf der einen Seite der Halle lag die Bibliothek. Sie hatte also Alfred Perlensamt als Arbeitszimmer gedient. Alles war wieder aufgeräumt, die Spuren meiner Übernachtung beseitigt. Links und rechts des flaschengrünen Samtsofas, auf dem ich geschlafen hatte, standen chinesische Lampen, auf antik getrimmt, aufgebauscht mit rosa Seidenschirmen. Eine Fußbank, ein Zeitungsständer, eine Trittleiter, die man zum Stuhl
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