Perlensamt
zum Lüften der Wohnung geöffnet hatte. Die Zeitungen, die vor der Wohnungstür gelegen hatten, legte ich zusammen mit der Post auf den Tisch in der Halle. Dann schloß ich ab. Nun hatte ich den Beweis. Die konkrete Signatur. Was sollte ich damit machen? Und was mit David?
EINUNDZWANZIG
Mitternacht war längst vorbei, als ich nach Hause kam. Ich hatte etwas essen wollen, allein, in einem Restaurant. Dann stellte ich fest, daß ich keinen Appetit hatte. Ich trank ein paar Gläser zu viel. Im Briefkasten fand ich einen Benachrichtigungszettel der Post. Am Schalter wartete tags darauf ein Paket auf mich. Nachdem ich zwei wundervolle fünfarmige Wandlüster aus gelbem Glas ausgepackt hatte, las ich den beigefügten Brief . Lieber Herr Dr. Saunders, entgegen Ihrer Annahme hier ein Zeichen, daß ich mich sehr wohl für die schönen Dinge begeistern kann. Bitte nehmen Sie die Lüster als Dankeschön. Sie müssen etwas vorsichtig sein beim Abbrennen der Kerzen, das eine Glas hat bereits einen leichten Sprung. Es sind mundgeblasene Arbeiten aus dem 19. Jahrhundert. Ich habe das Gefühl, daß unsere Familie Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet hat. Auch wenn ich nicht anders kann, als David zu lieben, ist mir doch klar, wie schwer es manchmal mit ihm ist. Bitte seien Sie nachsichtig. Er braucht so sehr die Nähe von Menschen, die es gut mit ihm meinen und ihn das spüren lassen – etwas, was ich, obwohl es meine Pflicht gewesen wäre, versäumt habe. Ihre Edwige Abèz.
Dafür, daß sie sich mit der Familie so überworfen hatte, fühlte sie sich bemerkenswert verantwortlich. Es schien geradezu ihre fixe Idee zu sein, daß David unter seinem Elternhaus zu leiden hatte. Ich rief sie an und bedankte mich. Ich erzählte ihr auch, daß David auf dem Weg der Besserung sei.
»Haben Sie ihn im Krankenhaus besucht?«
Ich erklärte ihr, daß ich sehr viel zu tun hätte.
»Haben Sie die Briefe gelesen?«
Nein, aber das sagte ich ihr nicht. Ich antwortete mit einer Gegenfrage.
»Haben Sie unter Ihrem Vater gelitten – tun Sie es vielleicht noch?«
»Nein, warum sollte ich unter meinem Vater leiden? Er ist tot.«
»Seine Haltung war Ihnen ganz egal?«
»Ich habe wenig Bezug zu ihm gehabt. Aber ich denke, er war wie alle Väter dieser Generation. Außerdem war Krieg. Es war eine schreckliche Zeit. Nach dem Krieg haben wir diese Zeit nicht aufwiegen können. Nein, ich habe nicht unter ihm gelitten. Ich habe nur wenig von ihm als Vater gehabt.«
»Und daß er in das System verwickelt war …?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen, Herr Dr. Saunders. Er ist mehr oder minder ein Nazi gewesen wie die meisten deutschen Männer dieser Jahre. Kein Widerständler, das stimmt, irgend so ein kleines Mistvieh, wirklich keine herausragende Person. Kein SS-Offizier, keiner aus der braunen Hautevolee. Und außerdem ist das nur mein halbes Erbe. Sie wissen doch, daß unsere Mutter Französin war. Schluß mit diesen Familiengeschichten. Das einzige, was mich heute interessiert, ist, daß David sein Leben ordnet. Daß ihn jemand liebt. Daß er glücklich wird. Wenn Sie ihm ein Freund sein könnten?!«
Auch Mona trieb mich zu David. Sie bat mich, ihn im Krankenhaus zu besuchen. Ich fühlte mich von allen Seiten bedrängt. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich zum ersten Mal ernsthaft darüber nach, aus Berlin zu verschwinden.
David freute sich sichtlich, als ich ins Zimmer trat. Für mich war der Anblick kaum zu ertragen. Ich sah einen abgemagerten Mann, der kaum die Hände auf seiner Bettdecke koordinieren konnte. Die schwarzen, vollen Haare klebten an seinem Kopf. Sein Bart war ebenso schwarz, offenbar hatte niemand daran gedacht, ihn zu rasieren. Seine Augen wirkten in dieser schwarzen Umgebung noch größer, noch tiefer in den Höhlen. Er verfolgte jede meiner Gesten, stumm, und kurz hatte ich den Eindruck, als wartete er nur auf den geeigneten Augenblick, meine Hand zu ergreifen. Aber er tat nichts dergleichen. Vielleicht war er zu schwach, vielleicht aber auch spürte er, daß ich von ihm abgerückt war. Von dem Mann, den ich so bewundert hatte, war äußerlich nichts mehr übrig.
Er wies mit einer Geste auf sein Bett. Ich sollte mich zu ihm setzen. Ich nahm einen Stuhl und rückte ihn ein wenig ans Bett heran.
»Mein Vater hat meine Mutter erschossen, um ihr größeres Leiden zu ersparen. Manchmal müssen wir hart im Erbarmen sein. Wir müssen uns opfern für einen anderen.«
»David, du weißt nicht, was du sagst.«
»Doch, ich
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