Perlensamt
sie auch ins Büro mitbringen, ich gebe sie dann David. Mit scheint, du kommst nicht besonders gern hierher.«
»Kannst du nicht einmal aufhören, dich überall einzumischen? Was gehts dich an, wohin ich gerne komme und gehe?«
Auf meinem Bett lagen die Briefe und die Dokumentenmappe. Wie oft, wenn ich fürchtete, die Verbindung zur Gegenwart zu verlieren, ließ ich den Fernseher im Arbeitszimmer laufen. Ich schaltete wahllos irgendeinen Kanal ein, ohne auf das Programm zu achten. Edwige hatte die Briefe chronologisch geordnet. Oben auf dem Stapel lag ein Umschlag mit Poststempel vom Dezember 1965. Eine ungelenke Kinderschrift dankte der Tante für einen Teddy zu Weihnachten. Es folgte eine Postkarte aus Sylt, wo David die Schulferien mit seiner Mutter verbrachte. Sie hatte am Ende nur mit ihrem Namen unterschrieben, nicht einmal einen Gruß dazugesetzt. Darunter lag eine Karte aus Zermatt. Natürlich sah man in fast verblichenen Farben das Matterhorn darauf. Laut Rückseite war David mit seiner Schweizer Internatsklasse in den Skiwochen gewesen. Es hatte ihm Spaß gemacht. Edwige hatte ihm Skischuhe zu Weihnachten geschenkt und ein Buch, David Copperfield, wofür er sich förmlich bedankte.
Jetzt, da ich die Briefe aus dem Karton genommen habe, ist die Reihenfolge durcheinander geraten. Die Kinderbriefe in der staksigen Handschrift, die Grüße aus Sommerfrische und Wintersport hatten mich schnell nicht mehr interessiert. Ich hatte die Briefe obenauf gelegt, die mir am aufschlußreichsten erschienen. Vor allem ein Satz in einem der letzten war mir ins Auge gefallen. Vielleicht hätte ich ohne den Tod von Davids Eltern seine Bedeutung gar nicht erkannt. Sie wollen nicht einsehen, daß sie schuldig sind. Sie halten mich für verrückt. Der Brief datierte vom Ende der achtziger Jahre. David war damals knapp dreißig. Eine noch heftigere Anklage fand sich in seinem letzten Brief. Ich habe noch einmal mit Vater gesprochen. Er behauptet störrisch, die Namensänderung nur deswegen durchgeführt zu haben, damit sein Name mit dem der Firma identisch war. Aus rein praktischen Gründen. Er will nichts davon wissen, sich mit diesem Namen eine Aura angeeignet zu haben, die ihm nicht zusteht. Perlensamt klingt wie ein jüdischer Name. Das ist der Vorteil, den er daraus zog. Deswegen hat er die Namensänderung durchgeführt. So hat er den Namen Abetz vergessen machen können. Als ich die Briefe erneut lese, sehe ich die Szene im Badezimmer noch einmal vor mir. Davids Besessenheit von dieser Familiengeschichte hat etwas Unheimliches. Trotzdem bedaure ich den Vorfall in Ahlbeck. Ich schäme mich für das Verhalten unserer Familie. Wenn Vater nicht aufrichtig handeln will, muß ich es tun. Jemand, der die Schuld seiner Vorfahren leugnet, wird selber schuldig.
Ich lege den Stapel mit den Briefen beiseite und gehe in den Garten. Der Rasen ist von Tau bedeckt. Es hat etwas Tröstliches, die nassen Halme unter den nackten Sohlen zu spüren. Klarheit, Wirklichkeit, Gegenwart. Die letzten Wochen, Monate fließen aus meinem Kopf, rasend schnell wie in einen gurgelnden Abfluß. Kaum ein Ereignis, eine Erinnerung, die mich hält. Es mag Jahre, Jahrzehnte her sein, daß ich mich fragte, woran meine Mutter sich festgehalten hatte, als sie in die Staaten ging. Allein mit dem ungeborenen Kind und der Hoffnung, meinen Vater zu finden. Für Rosie, glaube ich, hat immer nur die Zukunft Geltung gehabt. Als ich begann, sie bewußt zu erleben, war sie so, wie sie heute noch ist: dünn, perfekt angezogen, voller Disziplin. Sie wirkt künstlich. Wahrscheinlich war sie nicht immer so. Die dreckige Zeit hatte das gar nicht ermöglicht. Sie muß einmal wie jedes Mädchen gewesen sein, eingewachsen in ihre Umgebung, ihren Eltern ähnlich. Vielleicht ist sie pummelig, pausbäckig, rosig gewesen. Vielleicht hatte sie jenen lebendigen, quirligen, so wenig erklärbaren Charme gehabt, den Mona verströmte. An die Nacht in Deutschland kann ich mich nur schemenhaft erinnern. Ich meine, ihre Stimme hätte weich geklungen, mädchenhaft. Aber sie hatte sich nie einem fremden Willen unterworfen, nie getan, was andere von ihr verlangten. Hatte sie, bevor sie ihr Elternhaus verließ, geschwankt? Hatte sie je überlegt, ihr Kind, mich, abtreiben zu lassen? In ihren Erzählungen jedenfalls kam kein Konflikt vor. Es hatte sich immer so angehört, als hätte sie die Forderung ihrer Eltern absurd gefunden. Nicht unmoralisch. Nicht herzlos. Nur absurd.
Ein Vogel singt.
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