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Perlensamt

Perlensamt

Titel: Perlensamt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bongartz
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Das erste Gezwitscher am Morgen. Mitten in Brüssel. Ich bin diesem Sumpf entkommen. Was also machen diese Grübeleien noch in meinem Kopf? Rosie hat immer gewußt, was sie tat. Sie hat immer für mich gesorgt. Sie hat mich nie im Stich gelassen. Nach der Deutschlandreise war sie disziplinierter denn je. Als hätte sie eine Schwäche auszubügeln. Ich habe sie nie Alkohol trinken sehen. Nie erlebt, daß sie mit Appetit, geschweige denn über die Maßen gegessen hätte. Ich habe sie nie traurig gesehen. Nur dankbar dem Land gegenüber, in dem wir lebten. Sie ist eine andere geworden. Sie hat ihre Wurzeln in die amerikanische Welt betoniert. Ihre Vergangenheit erst desinfiziert, dann getilgt. Auf Manhattans Fifth Avenue hatte sie die Welt der Parfüms, Eaux de Toilette und Seifen entdeckt und ihre Begabung, das Leben zu polstern. Als Junge schlich ich über den oberen Gang die Treppe hinunter, um nachts heimlich an den Kühlschrank zu gehen. Alles war mit dicken weißen Wollteppichen ausgekleidet. Nicht mit orientalischen Teppichen, wie ich sie später in den großzügigen Häusern der Familien meiner Kommilitonen sah, sondern mit Spannteppichen von Fußleiste zu Fußleiste, in jedem Zimmer und von jedem Zimmer in den Gang. Nur unten, wo man eintrat, lag schwarzer Schiefer. Geräusche machten in der Humboldt Street nicht die Menschen, nur die Maschinen. So begann Rosies amerikanischer Traum. Wie lange hatte ich das nicht vor Augen gehabt!
    In jener Nacht in Langenfeld, als sie mich weckte, fürchtete sie sich ein letztes Mal. Weil wir in Deutschland waren. Ich spürte es, ohne es benennen zu können. Ich roch es mit dem Sinn, der Kindern für Atmosphären eigen ist. Ich war in jener Nacht Rosies Rettung. Sie las mir ein Märchen vor, ein deutsches Märchen in englischer Sprache. Sie floh mit ihrer Zunge darüber, so daß ich sie kaum verstand. Der Unfall am nächsten Tag und mein Erlebnis lieferten den Vorwand für unsere sofortige Abreise. Meine Großeltern habe ich nie wieder gesehen.

DREIUNDZWANZIG
    Während die Kugeln über ihre Köpfe hinwegpfiffen, saßen unten an der Seineböschung Angler mit unbeweglicher Miene, wie sie schon in Friedenszeiten in Erwartung des nie anbeißenden Fisches dagesessen hatten, wie sie während der Besatzungsjahre dasaßen und wohl auch heute noch dasitzen werden … Auch in den Vierteln, in denen die Schießereien ernstere Formen anzunehmen drohten, ging der Großteil der Bevölkerung ruhig weiter seinen Geschäften nach, und die jungen Mädchen, die auf ihren Fahrrädern durch die Straßen spazierenfuhren, ließen die Röcke ihrer leichten Kleidchen unbekümmerter denn je hinter sich her flattern. Die Röcke leichter Kleider. August in Paris. Die Seineböschung. Die Welt zwischen dem Pont Mirabeau und der Porte de Bercy. Junge Mädchen auf ihren Fahrrädern. Fische, die ihren Anglern entkommen. Der 19. August 1944, wie er in den Memoiren von Otto Abetz verewigt ist, scheint in einem anderen Paris stattgefunden zu haben als das Grauen, das George Duras beschrieb. Wie ich der Mappe entnahm, spielt sechzehn Jahre später das Stadtviertel im Leben der Familie Abetz/Perlensamt erneut eine Rolle. Ein gewisser Patrique Melcher attestiert Perlensamt senior, im August i960 zwanzigtausend Mark in Empfang genommen zu haben. Er gibt an, in der Nähe der Porte de Bercy zu wohnen. Keine schöne Gegend zur Zeit des Krieges. In den fünfziger Jahren um nichts besser geworden. Auch heute nicht einladend. Beidseitig der Seine liegt hinter den Bahnhöfen Austerlitz und Lyon das Stadtgebiet der Lager, Magazine und Arsenale. In dieser Zone sind die Dinge noch uneigentlich und harren ihrer Bestimmung. Die Bande von Bonny und Lafont hatte das genau so gesehen.
    Es stand nicht in dem Papier, wofür der Mann, der aus dieser Gegend kam, das Geld erhalten hatte. Aufgeführt war nur, daß es sich um eine Abfindung handelte. Patrique Melcher verlor damit alle Ansprüche an Edwige Abèz. Patrique Melcher – P.M. Sofort mußte ich an den Mann denken, mit dem Duras zur Schule gegangen war. P.M., der Sohn des jüdischen Kollaborateurs. Aber wie viele Männer gab es wohl in Frankreich mit den Initialen P.M.?
    Alfred Perlensamt hatte also für seine Schwester bezahlt. i960, fünfzehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte er die Ansprüche eines Franzosen getilgt. Ansprüche worauf? Edwige hing jedenfalls im Familienspiel drin. Einige Jahre später, mit einem maschinegeschriebenen Briefkopf aus der Rue de

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