Perlensamt
Perlensamt als Maurice Abetz ausweist. Maurice – nicht Bernhard! Darunter der amtliche Beleg, daß Maurice seinen Namen änderte, als er die Firma Perlensamt kaufte. Das war kurz nach dem ersten Boom seiner patentierten Erfindung. Ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1958, heiratete er Miriam Helling. Auch sie nannte sich Perlensamt. Der Name fungierte von nun an als Markenzeichen. Verheiratet waren sie unter dem alten Familiennamen Abetz. Über Miriams Herkunft sagte das Familienstammbuch nur, daß sie im Rheinland geboren war, als Tochter der Eheleute Käthe und Richard Helling. Weniger Spuren noch hatte Otto Abetz in diesen Dokumenten hinterlassen, nämlich keine. Maurice war nicht der Sohn von Hitlers Botschafter in Paris. Er war der Sohn irgendeines Paul Abetz aus Wuppertal und seiner Frau Léonie, geborene Gaspard, die aus einer Pariser Vorstadt stammte. Die nächsten Seiten des Stammbuchs, auf denen die Kinder einzutragen sind, waren leer. Ich blätterte weiter in den Firmenpapieren. Der Kaufvertrag eines Produktionsgebäudes. Verschiedene, längst getilgte Hypotheken. Verträge. Aus den Unterlagen ging hervor, daß Perlensamt/Abetz mit seiner Frau in Gütertrennung gelebt hatte. Der Privatbesitz war ihr überschrieben, bei Unternehmern ein nicht unübliches Gebaren. Bei Perlensamts Überschreibungen handelte es sich um einige Immobilien in Westdeutschland, die inzwischen David geerbt haben mußte, das Wohnungsinventar, den Nippes, die falschen antiken Möbel und die orientalischen Teppiche. Die Sammlung – weder als gesamtes noch einzelne Bilder – wurde mit keinem Wort erwähnt. Das vorletzte Blatt in der Mappe war Davids Geburtsurkunde. Hier fand ich die Erklärung, warum David im Stammbuch der Perlensamts nicht eingetragen war. Er war als David Paul Viktor Abetz am 7. Februar 1961 geboren worden.
Aber als Mutter war nicht Miriam vermerkt, sondern Edwige. Die Ehe der Perlensamts war kinderlos geblieben. Warum Edwige ihren Sohn dem ungeliebten Bruder überlassen hatte, sagte keines der Papiere. Deswegen hatte sie so detailliert von Davids Geburt berichten können. Deswegen litt sie so um ihn.
VIERUNDZWANZIG
Ich brauche Bewegung. Ich gehe zu Fuß hinunter in die Stadt. Seit ich in Brüssel bin, verlasse ich Haus und Garten kaum. Ein fast menschenloses Dasein von Tag zu Tag, herausgerissen aus jedem Zusammenhang. Ich habe Rosie seit Wochen nicht mehr angerufen. Ich weiß nicht, ob sie mich vermißt. Ich weiß ohnehin wenig über Rosie. Sie hat ihre Vergangenheit ausgelöscht. Sie hat noch ein paar Versuche unternommen, ihre Eltern in Langenfeld zu besuchen. Aber jedes Mal wurde die schmale, zähe Person krank. Allergische Reaktionen gegen Birkenpollen und gekochten Heilbutt traten auf, beim Trinken heißer Milch entging sie nur mit Mühe dem Erstickungstod. Sie konnte keine weißen T-Shirts vertragen und fing plötzlich an zu husten, wenn Schneewittchen, der dreizehn Jahre alte Perserkater, vom Garten hereinkam, wie er das seit dreizehn Jahren täglich tat. Als der erste Schnee kurz vor Weihnachten einen asthmatischen Anfall bei ihr hervorrief, sprach die behandelnde Ärztin ein Machtwort. Sie entzog Rosie die Medikamente und befahl ihr, in den nächsten sechs Monaten keine Reisen zu unternehmen, die weiter reichen würden als Midtown Manhattan. Der dubiose Überlebenskampf hatte ein Ende. In all der Zeit war von meinem Vater nie die Rede gewesen.
Wir wohnten nun in Park Slope. Aber Rosie schielte schon nach Brooklyn Heights. Zwischendurch sah es so aus, als hätte Bob beruflich Erfolg. Aber so war es nicht. Es war Rosie, die großen Erfolg gehabt hatte. Niemand wußte, womit. Wir waren von der ärmlichen Humboldt Street in Williamsburg nach Park Slope gezogen, lange bevor die Gegend wegen des berühmten Schriftstellers Paul Auster durch die Gazetten ging.
Ende der Sechzigerjahre war das kein angesagtes Viertel, aber besser als die Humboldt Street. Es war Rosies erstes eigenes Haus. Typisch amerikanisch in der Besessenheit umzuziehen, war dieses Haus nur die erste Adresse in einer langen Reihe von Häusern, die immer größer wurden, in immer besseren Gegenden lagen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Promenade Rosies letzte Adresse ist. Ich bin gespannt, ob meine Mutter sich den Triumph noch gönnt, es bis nach Manhattan geschafft zu haben. Vielleicht ein eigenes Townhouse auf der Upper East Side. Ich weiß nicht genau, wann sie mit ihrem »Geschäft« begann, das diese Umzüge möglich machte.
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