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Perlensamt

Perlensamt

Titel: Perlensamt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bongartz
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diese Kindheit zu überleben.«
    Ihr Blick wurde unklar und ihre Gedanken verhedderten sich. Jeden Augenblick konnte es vorbei sein.
    »Er ist heute voller Verachtung für die Leute, die ihn großgezogen haben, was weiß Gott nicht immer so war. Manchmal denke ich, er ist sich seiner widersprüchlichen Haltung gar nicht bewußt. Es begann damals im Internat. Irgendein Lehrer ging einen seiner Mitschüler an, der einen Großvater hatte, der eine hohe Nazicharge gewesen war. David steigerte sich in diesen Fall hinein. Er wurde zu seiner Perspektive, zu dem Grund für das unterkühlte, verstockte Verhalten, das mein Bruder ihm gegenüber an den Tag legte. Das Verschweigen der wahren Familienidentität hatte endlich eine dramatisch plausible Wurzel. Dazu paßte der veränderte Name, der ganz banale Gründe hatte. Mein Bruder wollte tatsächlich für einen Nachkommen aus der Firma Perlensamt gehalten werden, aus rein geschäftlichen Gründen. Familienunternehmen. Tradition. Dynastie. Die größenwahnsinnigen Phantasien eines Kleinbürgers, verstehen Sie? Er hielt das für edel. Er wollte so eine Art Rothschild sein. Deswegen kaufte er sich auch das Wappen. David half dieses »Familiengeheimnis«, die stetige Zurückweisung und das peinliche Verhalten dieses Paares zu ertragen, nehme ich an. Vielleicht liegt in der Verschwiegenheit der einen deutschen Generation der Grund für die Märchen der nächsten, und das nennt man dann Vergangenheitsbewältigung. Aber vielleicht ist es tapfer, damit etwas zu machen – egal was. Zumindest birgt es ein gewisses kreatives Potential.«
    Sie sah mich unverwandt an. Es schien sie nicht mehr zu interessieren, wen sie vor sich hatte.
    »David war in ihren Augen eine Fehlinvestition. Maurice ließ ihn das fühlen. Damals wollte David ganz und gar das Kind dieser Eltern sein. Er verhielt sich wie eine Zecke. Sie versuchten, seinen Körper aus der Familie zu reißen, aber sein Kopf steckte zu tief. Er wußte nicht, was sie von ihm wollten. Er versuchte zu ergründen, wie er ihnen gefallen könnte und scheiterte mit jeder noch so aufwendigen Aktion. Aus jedem Scheitern zog er die falschen Schlüsse, dachte, es reichte immer noch nicht, und suchte nach Neuem, womit er ihre Zustimmung finden könnte. In einem Winter, er war damals in der Nähe von Zürich in einem Internat, veranstaltete er eine Sammlung für die Familien eines Lawinenunglücks. Maurice war entsetzt, daß sein Sohn in der Zeitung abgebildet war. Danach wurde er zum militanten Tierschützer und organisierte Aktionen, die Pelzträgerinnen an den Pranger stellten. Er war mit einer roten Lacksprühdose in Zürich unterwegs und warf Geschäften für Rauchwaren die Scheiben ein. Wieder prangte sein Foto groß in der Zeitung. Maurice drehte fast durch. Die ganze Zeit schrieb David gute Klausuren, zeichnete, malte wie ein Besessener, begabt und erfinderisch, als sporne ihn die Trostlosigkeit zu Hause nur an. Endlich brachte ihn der Ausrutscher dieses Lehrers seinem Klassenkameraden gegenüber auf die ultimative Idee. Er hatte die Lösung gefunden – kurz vor dem Abitur. Er biß sich fest in dem Wahn, einer wichtigen, durch die NS-Zeit geächteten Familie zu entstammen, die durchwirkt von Unstimmigkeiten, Geheimnissen und Selbstverleugnung war. Wie Frankensteins Monster reklamierte das künstliche Geschöpf seinen Schöpfer. Mehr als einmal überlegte ich, ob ich ihm alles sagen sollte. Ich konnte es mir inzwischen leisten, auch finanziell. Aber ich fürchtete, dadurch alles noch schlimmer zu machen. Ich fürchtete, daß er mich haßte. Allein die Vorstellung, er hätte mir nicht geglaubt: unerträglich! Er wußte, daß ich meinen Bruder nicht leiden konnte, aber so sehr er auch mit Alfred zu kämpfen hatte – und erst recht mit Miriam – nach außen hielt er sie hoch. Sie waren die Eltern, die er verehrte, andere hatte er nicht. Sogar Miriam hat er verehrt und immer so getan, als liebte er sie. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, hätte er mich eine Lügnerin geschimpft. David ist geltungssüchtig, weit mehr noch und auf ganz andere Art als mein Bruder, charmanter, phantasievoller, aber auch verzweifelter. Er klopft beständig an die Tür, und wenn man öffnet, stürmt er herein. Schlägt man ihm die Tür vor der Nase zu, kommt er durchs Fenster, und wenn er nicht durchs Fenster kommt, preßt er die Nase gegen die Scheibe. Maurice und Miriram waren zu dumm, diese immense Energie umzuwandeln, wie man es oft bei sehr intelligenten

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