Perlensamt
die ganzen Analysen noch nicht, man brauchte mehr als ein Haar … Ich wußte auch, daß ich es mit David nicht dahin schaffen würde, wohin ich wollte. Und für ihn wäre seine Kindheit mehr als entbehrungsreich gewesen. Bei meinem Bruder hatte er alles, was er brauchte. Dachte ich. Also machte ich die Faust in der Tasche und öffnete sie nur, um Pflanzen zu pikieren und nach dem Spaten zu greifen. Nicht lange danach bestand ich die Prüfung. Ein Stipendium für Gartenarchitektur brachte mich nach England, und als ich zurückkam und mich selbstständig machte, war die Sache schon passiert. Ich hatte Melcher unterschätzt. Ihm war klar, daß ich arm war, kein Bares hatte. Aber er wußte auch, daß ich keine Ratte war wie er. Er hatte zudem eine feine Nase. Er sah in mir und in dem, was er angesetzt hatte, eine Art Lebensversicherung. Er hatte mich beobachtet und beobachten lassen. Das ganze Quartier ist ein Filz. Wenn eine Faser sich bewegt, verzieht sich das ganze Gewebe. Solange ich hier lebte, gehörte ich zu diesem Sumpf, ob ich das wollte oder nicht. Melcher hatte herausgefunden, daß jemand mein Kind genommen hatte. Er war der Spur gefolgt. Bis nach Berlin. Alfred wollte natürlich keinen Skandal. Und er wollte vermeiden, daß Miriam von der Erpressung erfuhr. Ich nehme an, er hat gezahlt. Sicher weiß ich es nicht. Er setzte sich mit mir in Verbindung, verdächtigte mich anfangs, daß ich selbst dahinter steckte. Sie sehen, wir haben uns wirklich nicht gemocht. Ich weiß nicht, wie viel und wie oft er zahlte, und ich weiß auch nicht, wie weit Melcher gegangen ist. Ich hielt mich da vollkommen raus. Vielleicht habe ich in Melchers Verhalten eine gerechte Strafe dafür gesehen, daß mein Bruder meine Notlage ausgenutzt hat. Vielleicht war ich insgeheim sogar froh, daß Melcher meinen Bruder erpreßte. Als David zehn oder zwölf Jahre alt war, kam Melcher bei einer Prügelei ums Leben. Irgend jemand hatte ein Messer gezogen, nicht unüblich in dieser Gegend. Hinterher ist es keiner gewesen. Die Polizei läßt sich schmieren und guckt lieber weg, als daß sie den Sumpf aushebt. Ich erfuhr es durch Zufall, als ich wieder einmal, was ich ab und zu tue, hierher zum Essen kam. Ich glaube, daß ihm keiner eine Träne nachgeweint hat, und außerdem ist das Viertel voll von seinesgleichen.«
Edwige hielt inne und nestelte eine weitere Zigarette aus der Packung. Sie schien müde.
»Ich hatte nicht vorgehabt«, sie brach ab und sah in die Öffnung mit dem Tabak, dann drehte sie die Zigarette um und besah sich den Filter. »Ich habe nie Zigaretten mit Filter geraucht. Ich finde das widerlich, wenn man sieht, wie sich in dem ehemals weißen Filter die braune Brühe sammelt.«
Sie steckte sich den Stengel in den rechten Winkel ihrer Lippen, nicht sehr elegant, als kehrte sie in jene Zeit zurück, als sie sich samstags ins Flo einladen ließ. Dann nahm sie die Zigarette wieder aus dem Mund.
»Sie sind Amerikaner. Ist es eine Erleichterung, Amerikaner zu sein, wenn man all das hört? Macht es einen Unterschied? Wissen Sie, ich stelle mir manchmal vor – ach, was solls. David ist nun einmal in Deutschland aufgewachsen. Der Rest der Welt macht auch keinen Unterschied.« Sie sah auf und direkt in mein Gesicht. »Und egal, wohin man geht, die Gene bleiben, nicht wahr? Man kann sich seinen Genen nicht entziehen.«
»Aber warum hat Ihr Bruder auf seine Frau geschossen und danach die Waffe gegen sich selbst gerichtet?«
»Mein Bruder auf seine Frau geschossen?«
Ihre Stimme schien wieder in jene Trance zu gleiten, in der sie zu reden begonnen hatte. Einen Augenblick lang fürchtete ich, ihre Kraft reichte nicht aus, die letzten noch verbliebenen Verwirrungen zu lösen. Wie ein Medium, das sich aus den esoterischen Bereichen zurück in die Wirklichkeit quält, schien sie langsam und nur mit Mühe von der Vergangenheit abzulassen.
»Mein Bruder hat nicht auf seine Frau geschossen.«
Sie gab sich einen Ruck, steckte die Zigarette wieder in den Mundwinkel und zündete sie an. Sie stieß die erste Rauchwolke hörbar aus, rief nach dem Kellner. Es sah aus, als sammelte sie Augenblick für Augenblick, um die Zeitpunkte aneinander zu kleben. Es war offensichtlich, daß sie vorher diese Einzelheiten nie zu einer ganzen Geschichte zusammengefügt hatte.
»David hat nicht alle Tassen im Schrank. Er hat kein Verhältnis zur Wirklichkeit – ich meine, er macht sich seine eigene Wahrheit. Ich glaube, es war seine einzige Möglichkeit,
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