Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
hatte. »
Für den Titel, der in einem übertrieben großen, fetten Format ausgedruckt war, hatte sie ein eigenes Blatt genommen. Jetzt zeigte sie darauf und setzte zu einer Bemerkung an. Mit einer Geistesgegenwart, die er von innen her gar nicht erlebte, kam ihr Perlmann zuvor und stellte Kirsten vor. Den Text hielt er mit beiden Händen hinter dem Rücken, während er zu Kirsten lobende Worte über Maria sagte, die ihm unerträglich hohl vorkamen. Und kaum hatte Maria eine Frage an Kirsten gerichtet, machte er eine entschuldigende Geste, ging hinüber zur Empfangstheke und bat Signora Morelli, den Papierstoß in sein Fach zu tun.
«Der Text hat mich sehr interessiert», sagte Maria, als er wieder zu ihnen trat.«Nur im letzten Drittel, die Sache mit der Aneignung, das habe ich nicht recht verstanden. »
«Ist ja auch ein Problem», sagte Perlmann und begann sich abzuwenden.«Und vielen Dank für die Arbeit. »
«Gern geschehen. Und... Moment... Bleibt es dabei: der andere Text am Freitag?»
Perlmann spürte Kirstens Blick auf dem Gesicht. Er hatte, als er sich noch einmal umwandte, das Gefühl, eine schwere und unförmige Last zu bewegen.«Ja», sagte er,«wie besprochen.»
Perlmann hatte bereits die Tür zum Speisesaal in der Hand, da deutete Kirsten hinüber zu den Schlüsselfächern.«Das ist jetzt der Text für deine Sitzung am Donnerstag, nicht wahr? Etwas mit... LIGUISTIC CREATION. Oder habe ich falsch gelesen? Du hast die Blätter ja sofort verschwinden lassen!»lachte sie.
«Nachher», murmelte Perlmann, als er Ruge und von Levetzov auf sie zukommen sah.
«Weißt du», sagte Kirsten, als sie sich an den Tisch setzten,«ich dachte, vielleicht könnte ich eine Kopie des Texts mitnehmen. Als Reiselektüre. Meinst du, ich könnte Maria bitten, mir noch einen Ausdruck zu machen?»
«Später», sagte Perlmann. Es war ihm nicht gelungen, seine Bedrängnis und Wut aus der Stimme fernzuhalten. Er legte die Hand auf ihren Arm und lächelte gequält.«Wir reden später darüber. Okay?»
Sie brauchte endlos lange, um sich für die Reise frisch zu machen und die paar Sachen zu packen. Beklommen blickte Perlmann auf die Bucht hinaus, wo unter dem trüben Himmel die erste Dämmerung einsetzte. Über den Text hatte sie kein Wort mehr verloren. Und das hatte, da kannte er seine Tochter viel zu gut, nicht daran gelegen, daß alle bis nach drei im Speisesaal sitzen geblieben waren und über die Späße von Achim Ruge gelacht hatten, der unter Kirstens bewundernden Blicken zu großer Form aufgelaufen war.
Auf diesen Text würde sie von sich aus nie wieder zu sprechen kommen. Eher würde sie sich die Zunge abbeißen. So war es immer gewesen, wenn er sie in einer Sache ungeduldig behandelt hatte. Wie vorhin auch, pflegte sie dann dieses betont vergeßliche, uninteressierte Gesicht aufzusetzen, in dem überdeutlich eine einzige Botschaft zu lesen stand: Es ist nichts. Einmal, als jemand in einer fachlichen Diskussion die These vertreten hatte, daß es neben der sprachlichen keine andere Form gebe, negative Existenzbehauptungen auszudrükken, hatte er spontan und mit großem Lacherfolg gesagt:«Sie kennen meine Tochter nicht. »
Kurz nachdem Kirsten auf ihr Zimmer gegangen war, hatte er den Text aus dem Fach geholt. Er hatte nur schnell auf das letzte gedruckte Blatt gesehen: Dreiundsiebzig Seiten waren es geworden. Dann hatte er den Ausdruck im Koffer eingeschlossen und die handschriftlichen Blätter zu Leskovs Text in die untere Wäscheschublade getan. Er hatte am Bahnhof von Genua angerufen und ein Schlafwagenabteil reservieren lassen. Fünf Minuten später hatte er nochmals angerufen und die Reservierung auf Couchette ändern lassen. Nein, welchen Anschluß nach Konstanz man morgens um sechs in Zürich habe, könne sie ihm mit dem besten Willen nicht sagen, hatte die genervte Frau gesagt. Seitdem stand er am Fenster, und obwohl ihm der Rücken weh tat, schien ihm das die einzige Stellung zu sein, in der er das Warten aushielt.
Sie trug wieder den schwarzen Mantel und hatte die rote Reisetasche in der Hand, als sie gegen halb sieben endlich erschien. Die Sache mit dem Text war wie nie gewesen. Eigentlich sei er ja doch ziemlich nett, der blöde Giorgio, sagte sie, nur seinen ewigen Spott könne sie auf den Tod nicht ausstehen. Und von Faulkner verstehe sie entschieden mehr als er. Sie war wieder geschminkt, und die grellrote Haarspange, fand er, paßte nicht zum fettglänzenden Violett der Lippen.
Sie
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