Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
waren viel zu früh am Bahnhof, der schlecht beleuchtete Bahnsteig war noch leer. Ein verlegenes Schweigen stand plötzlich zwischen ihnen, sie sahen sich scheu an, und dann begann Kirsten ziellos in der Reisetasche zu wühlen. Plötzlich wurde der verlassene Bahnsteig von dem schrillen Klingeln erfüllt, das Perlmann schon kannte. Es war ein durchdringender, sich endlos hinziehender Ton, der gespenstisch wirkte, weil er in der Nacht verhallte, ohne daß das geringste geschah. Sie brachen gleichzeitig in Lachen aus, und Kirsten hielt sich die Ohren zu. Fluchtartig verließen sie den Bahnhof und traten unter die Platanen vor dem Eingang.
Ob er wirklich bis nach Genua mitfahren wolle, fragte sie, als wieder ein Schweigen einzutreten drohte. Das sei doch wirklich umständlich. Doch er bestand darauf, und so saßen sie sich nachher in dem schäbigen Wagen gegenüber, und Perlmann hätte am liebsten geheult, als ihm bewußt wurde, daß er so krampfhaft nach Gesprächsstoff suchte wie bei der Begegnung mit einer Wildfremden. Schließlich brachte er die Rede auf Marias Frisur und fragte, ob Lack im Haar der letzte Schrei sei.
«Du lebst hinter dem Mond», lachte sie,«das ist längst wieder out, sogar mega-out. Das trägt kein Mensch mehr! »
Später zündete sie sich ihre letzte Gauloise an und reichte ihm dann das rote Feuerzeug. Bevor er es zurückgab, betrachtete er es genau, froh, etwas gegen das erneut drohende Schweigen tun zu können. Auf dem feinen Goldrand war in winzigen Buchstaben Cartier eingraviert. Gerade wollte er fragen, woher sie es habe, da warnte ihn ihre Miene, und er legte es ihr wortlos in die Hand. Sie drehte es zwischen den Fingern, während sie in die Nacht hinaussah.
«Ich schenke es dir», sagte sie plötzlich mit dem erleichterten Lächeln von jemandem, der soeben einen längst fälligen Abschied hinter sich gebracht hat.«Hier, nimm. »
Zögernd nahm er es entgegen. Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch, dann schnippte sie mit den Fingern.«Vorbei.»Er warf noch einmal einen Blick darauf und ließ es in die Tasche gleiten. François.
Sie war vorläufig allein in dem Couchettes-Abteil. Das könne sich ab Mailand ändern, meinte er, und fragte dann, ob sie Franken bei sich habe. Für ein Frühstück in Zürich. Sie lehnte sich aus dem Fenster und streckte den Arm aus. Er nahm ihre Hand. Vorne am Zug begann der Schaffner, die Türen zuzuschlagen.
«Zu Hause warst du auch selten beim Frühstück. Zu Mamas Kummer.»Sie schniefte, und jetzt sah er die Tränen.«Nur am ersten Ferientag, da haben wir immer zusammen gegessen, den ganzen Vormittag lang. Das war... das war wunderschön.»Sie ließ seine Hand los und wischte sich über die Augen.«Giorgio hat mir nämlich erzählt, daß du hier nie beim Frühstück bist. »Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie lachte. «Gli ho detto che ti voglio bene. Giusto?»
Perlmann nickte und hob die Hand zum Winken. Durch die Tränen hindurch sah er, wie Kirsten die Hände zu einem Trichter formte und etwas rief, das er nicht mehr verstand. Er blieb stehen, bis er ganz sicher war, daß er das rote Schlußlicht des Zuges nicht mehr erkennen konnte.
Weil die Fahrkarte für Kirsten mehr gekostet hatte als angenommen, hatte er nicht mehr genug Geld für ein Taxi. Mit knapper Not erwischte er den letzten Zug nach Santa Margherita. Hin und wieder griff er auf der Fahrt nach dem roten Feuerzeug in der Tasche und wiederholte in Gedanken Kirstens italienischen Satz. Im Hotel warf er sich aufs Bett und ließ den Tränen freien Lauf.
24
Am Ende der Dienstagssitzung schlug Millar vor, über Evelyn Mistrals Arbeiten am Mittwoch und Donnerstag zu reden, damit er am Freitag nach Florenz fahren könne, um sich wegen der Enzyklopädie noch einmal mit dem italienischen Kollegen zu treffen. Einen Moment lang empfand Perlmann eine hilflose Wut, weil ihm nun auch noch der letzte freie Tag genommen wurde, an dem er hätte schreiben können. Doch noch bevor Laura Sand ihre Sachen zusammenpackte und die anderen aufstanden, war diese Empfindung bereits in sich zusammengefallen und hatte einer betäubenden Gleichgültigkeit Platz gemacht.
Sie war von einer bleiernen Müdigkeit begleitet, die auch dadurch nicht geringer wurde, daß er seinem zwanghaften Schlafbedürfnis immer öfter und mit immer weniger Widerstand nachgab. Wachte er auf, so lastete die Müdigkeit eher noch schwerer auf ihm als vorher, und mit jedemmal, wo er in den Kleidern unter die Decke kroch, schien
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