Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Erleichterung freuten.
Perlmann gab sich die größte Mühe, interessiert zu wirken, und am Mittwoch nachmittag holte er schließlich, immer wieder gegen die Müdigkeit ankämpfend, die Lektüre ihres Texts nach. Aber alles, was er sagte, wirkte hölzern, und noch während er jeweils sprach, schien alle Bedeutung aus seinen Worten zu weichen. Im letzten Drittel des Texts kam die Stelle, wo Evelyn Mistral darüber redete, warum sich die Ausdifferenzierung von Phantasie und Wille im Medium der Sprache vollzöge. Es war nicht dieselbe Überlegung wie bei Leskov, das merkte er sofort. Aber als er sich Leskovs Argument zu vergegenwärtigen versuchte, war da nur Leere. Über diese Art Leere, die etwas Endgültiges an sich hatte und ganz anders war als eine vorübergehende Gedächtnislücke, erschrak er bis ins Innerste. Nur mühsam kämpfte er den Gedanken nieder, daß er im Begriff war, den Verstand zu verlieren.
Donnerstag abend ging er in die Trattoria. Er sah den Wirtsleuten an, daß ihnen die Frage, wo er in den letzten Tagen geblieben sei, auf der Zunge lag. Aber nach einem langen, erschrockenen Blick auf sein Gesicht unterdrückten sie beide ihre Neugier. Perlmann ging auf die Toilette und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Es war, fand er, nicht bleicher als sonst; im Gegenteil, die Schiffahrt mit Kirsten hatte einen Hauch von Bräune hinterlassen. Aber die Farbe, jetzt sah er es, war auch gar nicht der Anlaß für das Erschrecken der Wirtsleute gewesen. Es war die Leblosigkeit der Gesichtszüge, die einen zurückschrecken ließ. Das Gesicht hatte etwas von der Erschöpfung eines Schiffbrüchigen an sich, etwas Verlassenes, das einem den sonderbaren Gedanken eingab, sein Besitzer habe sich davongemacht und es einfach stehenlassen. Perlmann versuchte ein Lächeln, brach aber sofort ab, als er sah, wie kalt und fratzenhaft es ausfiel.
Als Sandra ins fast leere Lokal gehüpft kam, bedeuteten ihr die Eltern mit einem Blick auf Perlmann, leise zu sein. Da bat er das Mädchen, sich zu ihm zu setzen, und fragte nach der Schule. Sie schien an seinem Gesicht nichts Besonderes zu finden, langweilte sich aber bei der Fragerei und war erleichtert, als sie wieder gehen durfte. Perlmann ließ die Hälfte seines Essens stehen, murmelte eine abstruse Ausrede und war froh, als sich der Glasperlenvorhang mit einem leisen Klirren hinter ihm schloß.
Eine Weile stand er am Hafen und sah zu, wie sich die Wellen an den Betonblöcken vor der Mole brachen. Es war gar nicht wahr, daß es schon morgen geschehen würde. Morgen war doch erst Freitag, der Tag, an dem er Maria seinen Text hätte geben sollen. Wenn er einmal annahm, daß er seine Sitzungen mit Vorträgen bestritt statt mit verteilten Texten, so war noch ein Spielraum von immerhin sechs Tagen. Abzüglich der Zeit für Silvestris Sitzungen. Er atmete ein paarmal tief durch. Jetzt kam es darauf an, das bißchen Zuversicht, das sich regte, am Leben zu erhalten. Fünf Tage, das war im Grunde eine Menge Zeit. Er hatte ja schließlich Erfahrung im Schreiben von Vorträgen, viel Erfahrung. Langsam, als könne die Zuversicht durch zu heftige Bewegungen zerbrechen, ging er zum Hotel zurück.
Als er die Tür zu seinem Zimmer aufschloß, begann das Telefon zu klingeln.
«Ich bin’s», sagte Kirsten.«Ich wollte nur schnell hören, wie es dir ergangen ist. »
Zuerst verstand Perlmann nicht. Erst als Kirsten das zweite Mal«Hallo?»rief, begriff er: Sie dachte, heute sei seine Sitzung gewesen. Es war aus Ärger über den Ton studentischer Kameraderie gewesen, den sie auch jetzt wieder anschlug, daß er ihr am Sonntag in Rapallo nichts von der Verschiebung gesagt hatte.
«Ich bin noch nicht dran», sagte er.«Es gab eine Veränderung im Zeitplan. Ich bin erst in einer Woche dran.»
«Ach so, dann hab’ ich dir den Daumen umsonst gehalten. Wer war heute dran?»
«Evelyn.»
«Aha.»
Es entstand eine Pause.
«Gibt es Giorgio noch?»
Er lachte und war darüber verwundert.«Ja, den gibt’s noch.»
«Grüß ihn von mir. Aber nicht zu freundlich! Und sag ihm... nein, laß es. »
Perlmann setzte sich an den Schreibtisch und blickte auf das Blatt mit den Stichworten, an dessen Rand er Figuren gezeichnet hatte. Wenn ich mich im Seminar langweile, zeichne ich auch Ornamente, hatte sie gesagt. Was zwischen ihr und Silvestri vorgefallen war, würde er wahrscheinlich nie erfahren. Und fragen durfte er auf keinen Fall. Diesen Fehler hatte er nur einmal begangen. Er sah ihr wütendes
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