Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
die Gleichgültigkeit noch umfassender zu werden, bis es ihm vorkam, als habe er in dieser kurzen Zeit verlernt, überhaupt irgend etwas zu empfinden. Wenn er etwas zu sich nahm, geschah es ganz mechanisch und war, was die Blindheit des Empfindens anlangte, kaum von der Nahrungsaufnahme einer Pflanze zu unterscheiden. Daß er auch diese Tätigkeit noch einstellte, war nur eine Frage der Zeit, dachte er, wenn er wieder in einen Dämmerzustand glitt, in dem er sich für Momente geborgen fühlte, bis ihn der nächste Strudel von irrlichternden Traumbildern mit sich fortriß.
Am Dienstag abend rief Kirsten an. Er habe recht gehabt, erzählte sie, in Mailand habe sich das Abteil gefüllt, und dann sei ein richtiges Schnarchkonzert losgegangen, so daß sie kein Auge zugetan habe. In Zürich habe sie fast zwei Stunden auf Anschluß warten müssen, aber das Frühstück sei fantastisch gewesen.
«Ich hoffe», sagte sie mit einem ängstlichen Zögern,«du hast meine Bemerkung beim Abschied nicht falsch aufgefaßt. Es sollte kein Vorwurf sein. »
Der Übungsraum im Institut war ihr noch schäbiger vorgekommen als sonst.«Und dann diese ewigen Pappbecher! Ich mußte ständig an eure Kristallgläser denken! »
Martin?«Stell dir vor, er stand am Bahnhof, auf gut Glück, weil er sich das mit dem Nachtzug ausgerechnet hatte.»Sie machte eine Pause.«Als ich ihn sah, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Wegen... na, ja, wegen meiner Bemerkung. »
Die Seminarsitzung?«Die habe ich mit offenen Augen verschlafen! Einmal, als Lasker The Wild Palms erwähnte, mußte ich an die Diskussion mit Millar denken. Gott, ist der Mann von sich überzeugt! Cocksure ist gar kein Ausdruck! »
Nachher konnte Perlmann nicht einschlafen und sehnte den früheren Schlafzwang herbei. Mitten in der Nacht holte er die Aufzeichnungen aus dem Handkoffer und setzte sich an den Schreibtisch. Langsam blätterte er um. Nein, es ging nicht, die deutschen Beispielsätze ins Englische zu übersetzen; sie klangen fade, fremd und auch lächerlich. Gegenwart: ein Parfum, ein Licht, ein Lächeln... Er hatte den Filzstift schon angesetzt, um die beiden Zeilen durchzustreichen, da hielt er inne und rauchte eine Zigarette. Er ließ die Zeilen stehen und blätterte ans Ende. Was mich von meiner Gegenwart trennt... Ohne Zögern strich er den ganzen letzten Absatz aus. Doch das genügte ihm nicht. Er schwärzte immer weiter, bis noch der letzte weiße Punkt verschwunden war und das Ganze einen tiefschwarzen Block bildete, der auf der nächsten Seite Spuren hinterließ. Er wedelte und blies das Blatt trocken, dann blätterte er zurück zu den beiden eingerückten Zeilen. Nach einem kurzen Blick schwärzte er auch sie. Eine Weile saß er reglos vor der ersten Seite. Dann malte er mit dem Filzstift die Überschrift: MESTRE NON È BRUTTA.
Am Mittwoch morgen auf dem Weg zur Veranda ging er zu Maria ins Büro und gab ihr die Aufzeichnungen. Sie lachte über den Titel. Nun sei der Text ja doch früher fertig geworden, meinte sie. Sie müsse heute und morgen noch eine Reihe anderer Dinge erledigen, aber bis Montag abend werde sie es, wie verabredet, schaffen. Perlmann nickte zu allem. Er war schon unter der Tür, da hörte er sie noch einmal lachen. Sie zeigte auf den geschwärzten Schlußabsatz.«Wie in einer Geheimakte!»sagte sie.«Macht einen direkt neugierig!»
Evelyn Mistral brauchte fast eine Stunde, um ihre Nervosität abzuschütteln. Erst dann hörte das hektische Spiel mit der Brille auf, und sie begann, sich in dem großen Sessel bequem hinzusetzen. Es fiel ihr sichtlich schwer zu glauben, daß Millar und Ruge nicht nur höflich waren, sondern daß ihnen der Text wirklich gefallen hatte. Doch als sie sich dann sicher fühlte, wurde sie von Minute zu Minute souveräner, lieferte vieles nach, was nicht im Text stand, und berichtete von einer Reihe spannender Experimente zur Entwicklung von Phantasie und Wille, die Millar richtig zu begeistern vermochten. Das Gefühl, es in dieser illustren Runde geschafft zu haben, brachte sie immer noch mehr in Fahrt, ihr Gesicht war gerötet, und sie rauchte viel mehr als sonst, wobei ihr von Levetzov mit der dezenten Aufmerksamkeit eines Trainers jedesmal rechtzeitig ein brennendes Streichholz hinhielt. Einmal, als sie gegen ihre Gewohnheit zu inhalieren versuchte und husten mußte, gab es ein Gelächter, in dem unzweideutig zum Ausdruck kam, daß die anderen sie in ihrer Leistung akzeptierten und sich über ihre
Weitere Kostenlose Bücher