Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
ihre Stimme wieder die Helligkeit, die Perlmann vom Telefon her in Erinnerung hatte.«Bis später», sagte sie zu ihm, als der Page den Koffer nahm und ihr zum Lift vorausging.
Perlmann ging langsam über die weitläufige Terrasse zurück zum Schwimmbecken. Jetzt war auch der rothaarige Mann von heute morgen wieder dort. Perlmann erwiderte seinen leutseligen Gruß mit einer knappen Handbewegung und setzte sich auf der anderen Seite in einen Liegestuhl. Er überließ sich einem Gefühl, das eigentlich nur die Abwesenheit von Angst war. Zum erstenmal seit seiner Ankunft stemmte er sich nicht gegen die Dinge, die ihn umgaben: die schräg gewachsenen Pinien, die auf die Uferstraße hinausragten; die Fahnen entlang der Balustrade; den roten Smoking des Kellners; den Geruch von Pinienharz und den Rest von sommerlicher Hitze in der Luft. Jetzt war es ihm möglich zu sehen, daß der Wein an der Pergola rötlich wurde. Agnes hätte das als erstes gesehen.
«Sie haben mir ein phantastisches Zimmer gegeben», sagte Evelyn Mistral, als sie das Badetuch auf den benachbarten Liegestuhl fallenließ.«Dort oben, das Eckzimmer im dritten Stock, ein Doppelzimmer mit antiken Möbeln, ich glaube, der Schreibtisch ist aus Rosenholz. Und dann diese Aussicht! So habe ich noch nie gewohnt. Aber der Preis, man darf gar nicht daran denken! Wie soll man sich das bloß verdienen? Jedenfalls hat man an einem solchen Schreibtisch keine Ausrede, nicht zu arbeiten!»
Sie hatte ihren Bademantel ausgezogen und stand am Beckenrand. Der leuchtendweiße Badeanzug aus einem Stück betonte ihre Bräune, ein Braun mit einem gelblichen Schimmer. Mit einem Kopfsprung war sie im Wasser, blieb lange untergetaucht und schwamm dann in dem großen, nierenförmigen Becken ein paarmal hin und her. Das Wasser spritzte kaum, die Bewegungen ihres ruhigen, fast trägen Freistils waren elegant und standen im Gegensatz zu ihrem linkischen Gang. Zwischendurch schwamm sie zu ihm hinüber und legte die Arme auf den Beckenrand.«Warum kommen Sie nicht auch rein? Es ist herrlich!»Dann schwamm sie weiter.
Perlmann schloß die Augen und versuchte, dieses Bild festzuhalten: das glänzende Wasser auf ihrem Lachen; das nasse blonde Haar. Es war auch jetzt nicht anders als sonst: Nie gelang es ihm, die Gegenwart zu erleben, während sie stattfand; stets kam er zu spät mit seinem Erwachen, und dann blieb nur noch der Ersatz, die Vergegenwärtigung, in der er aus lauter Verzweiflung zum Virtuosen geworden war.
So unerwartet wie vorhin, als er ihm Feuer gegeben hatte, stand mit einemmal der Kellner über ihm und reichte ihm Leskovs Text, das Wörterbuch und die Zigaretten.
«Jemand anderes möchte jetzt dort sitzen», sagte er und zeigte hinüber zu den Säulen. Dann suchte er in der Tasche seines Smokings und überreichte Perlmann ein Heftchen Streichhölzer mit der Aufschrift GRAND HOTEL MIRAMARE.
Perlmann legte die Sachen neben sich auf den Boden und sah zu Evelyn Mistral hinüber, die sich jetzt mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken treiben ließ. Das lange Haar, das in dem blauen Wasser brünett aussah, lag wie ein unordentlicher Fächer um ihr Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen, auf den hellen Wimpern schimmerten Wassertröpfchen, und wenn sie aus einem Schattenstreifen wieder in die Sonne glitt, zuckten ihre Lider. Wie früher, wenn er einen Eindruck hatte festhalten wollen, zündete sich Perlmann eine Zigarette an. Das Inhalieren und die Empfindung gesteigerter, ein bißchen gepreßter Lebendigkeit, die dann eintrat, ließ die Illusion entstehen, als könne er das Unmögliche ertrotzen: den Augenblick so lange anzuhalten, bis es ihm gelungen war, sich ihm aufzuschließen und ihm dadurch Tiefe zu geben. Wieder spürte er Schwindel, aber die Empfindung überschritt nicht mehr die Grenze zur Übelkeit, und als die Zigarette zu Ende war, zündete er eine weitere an.
Als Evelyn Mistral aus dem Wasser kam und sich abtrocknete, fiel ihr Blick auf Leskovs Text am Boden.«Ach, Sie können Russisch», sagte sie. Dann kniff sie die Augen zusammen.«Das ist doch Russisch, oder? Das würde ich auch gern können. Wann haben Sie es gelernt? Und wie?»
Perlmann konnte sich nachher nicht erklären, warum er in diesem Augenblick zusammenzuckte, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden.
«Eigentlich kann ich es gar nicht», sagte er und legte Text und Wörterbuch auf die andere Seite des Liegestuhls, wie um ihr Platz zu machen.«Nur ein paar Wörter. Der Text hier –
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