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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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manieriert, war er keineswegs ein Wichtigtuer, sondern ein Mann, der in einer überraschend bescheidenen Wohnung voller Bücher wohnte und ganz in seiner Wissenschaft aufging, zu der er mehr beitrug als die meisten anderen. Ab und zu sah man ihn in der Hamburger Oper, immer nur bei Mozart und stets allein. Es gab Gerüchte über eine kurze Liaison mit einer Schauspielerin und über Alkohol. Genaues wußte niemand.
     
    Evelyn Mistrals Haar war wirr vom Frottieren, als sie mit dem Badetuch um die Schultern die Halle betrat. Die strahlende Gegenwart ihres Lachens war für Perlmann in weite Ferne gerückt. Die Anwesenheit Adrian von Levetzovs, und vor allem seine letzten Worte, hatten sich wie Milchglas zwischen ihn und dieses Lachen geschoben. Die Stunde am Schwimmbecken war nur noch wie eine schöne Täuschung, eine Fata Morgana. Er war erleichtert, daß sie Leskovs Text eingerollt hatte und ihm das Wörterbuch mit der Rückseite nach oben hinstreckte. Er nahm beides in eine Hand, die er dann hinter dem Rücken versteckte.
    Der hochgewachsene von Levetzov beugte sich zu der kleinen Evelyn Mistral hinunter, ergriff ihre Hand in der Andeutung eines Handkusses und sagte in übertriebenem Oxford-Englisch, er bedaure es sehr, daß ihr Lehrer nicht habe kommen können, er sei natürlich unersetzlich. Er schien nicht zu bemerken, daß es ob dieser Taktlosigkeit um ihren schmalen Mund herum zuckte, und erklärte mit einem Blick auf die Uhr, er müsse einige Telefongespräche führen, solange die Kollegen in Deutschland noch im Büro seien. Dann eilte er die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend; dabei hüpfte die Uhrenkette auf und nieder und unterstrich den grotesken Gegensatz zwischen der forcierten Jugendlichkeit seiner Bewegungen und der altväterlichen Erscheinung.
    Als Evelyn Mistral im Aufzug verschwunden war, blieb Perlmann eine Weile reglos stehen und starrte auf den hellen Streifen, den die Nachmittagssonne auf den Marmorboden der Halle warf. Sie war mehr als zwanzig Jahre jünger als er, und doch war in dem Gesicht, mit dem sie von Levetzov nachgeblickt hatte, eine Sicherheit und mühelose Distanzierung zum Ausdruck gekommen, von der er nur träumen konnte. Es ist ungerecht, dachte er immer wieder, als er zu seinem Liegestuhl zurückhumpelte, um die Zigaretten zu holen. Und jedesmal, wenn dieser Satz von einer Welle diffusen, richtungslosen Grolls angeschwemmt wurde, verwarf er ihn als lächerlichen Unsinn.
     
    Mit Laura Sand war nicht vor fünf zu rechnen. Perlmann ging hinauf ins Zimmer. Als er sich aufs Bett fallen ließ, kam es ihm vor, als sei der gesamte Vorrat an Alleinsein, den er hierher mitgebracht hatte, durch diese beiden Begegnungen bereits restlos aufgebraucht worden, und es überkam ihn ein Gefühl der Wehrlosigkeit.
    Was ihm am meisten zu schaffen machte, als er sich das Geschehene vergegenwärtigte, war die Art, wie er über die ganze Terrasse zum Empfang gehetzt war, um von Levetzov zu begrüßen. Er konnte sich sehen: einen hageren Mann im dunkelblauen Polohemd über heller Hose, mit kurzem, schwarzem Haar und einem bleichen Gesicht hinter der schwarzen Hornbrille – einen Mann, der beflissen zu Diensten eilte. Und neben diesem Bild tauchte ein anderes Bild der Beflissenheit auf, das Bild seines Vaters, wenn er ans Telefon gerufen wurde. Es war das Bild einer harmlosen, banalen Situation, und dennoch eines der schlimmsten inneren Bilder, die er von zu Hause mitgenommen hatte. Der Vater schritt mit beklemmender Eile und einem Gesichtsausdruck, als ginge es um Leben und Tod. Auf gar keinen Fall durfte man ihn auf diesem Gang ansprechen, er ging auf eine Weise, daß man unwillkürlich den Atem anhielt. Das Gesicht schien dabei stets gerötet zu sein und von einem Film von Schweiß überzogen, glänzend. Er ging nach vorne geneigt, jedermann zu Diensten, der ihm die Ehre antat, ihn anzurufen. Nur den Anrufer nicht warten lassen. Dieser Anrufer hatte allein dadurch, daß er anrief, das Recht erworben, ganz über ihn, den Vater, zu verfügen. Der Vater als Angerufener hatte in diesem Moment kein eigenes Leben, keine eigene Zeit und keine eigenen Bedürfnisse, auf die ein Anrufer hätte Rücksicht nehmen müssen. Er stand bedingungslos zur Verfügung, jederzeit, auf Abruf.
    Perlmann hatte erst spät begriffen, daß dieses Bild sein Verhältnis zur Außenwelt, der Welt der anderen, für lange Zeit geprägt hatte. Dieser Welt hatte man zu Diensten zu sein, man war von der Gnade ihrer

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