Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
zurückziehen konnte, ein innerer Bezirk, in den die anderen nicht einzudringen vermochten und aus dem heraus er sich gegen ihre Erwartungen wehren würde, eine innere Festung, in der er unverwundbar war durch ihr Urteil. Wenn er sich darin aufhielt, und es erschloß sich ihm ein russischer Satz nach dem anderen, so mochte es ihm sogar gelingen, dem großen Gebirge der Zeit einige Momente der Gegenwart abzutrotzen. Und wenn er dann, nach den verbleibenden zweiunddreißig Tagen, wieder am Flugzeugfenster saß und die Schleife genoß, in der die Maschine über dem Meer hochstieg, so konnte er sich sagen, daß er nun viel besser Russisch konnte als vorher, so daß er diese Zeit doch nicht gänzlich verloren hatte.
Perlmann nahm den Text und das Wörterbuch, und als er die Treppe hinunterging und Signora Morelli zunickte, war sein Schritt leichter als in den Tagen zuvor. Er setzte sich unter dem Säulenvorbau des Eingangs in einen Korbsessel und betrachtete die Überschrift, die Leskov von Hand in großen, sorgfältig gemalten Buchstaben hingeschrieben hatte: O ROLI JAZYKA V FORMIROVANII VOSPOMINANIJ. Er brauchte nur einmal nachzuschlagen, dann hatte er es: ÜBER DIE ROLLE DER SPRACHE IN DER BILDUNG VON ERINNERUNGEN.
Das kam ihm bekannt vor. Richtig, darum war es auch damals bei ihrem Gespräch in St. Petersburg gegangen. Er sah sich mit Vasilij Leskov an einem Fenster des Winterpalastes stehen und auf die gefrorene Neva hinausblicken. Agnes’ Tod lag erst zwei Monate zurück, und es war ihm überhaupt nicht danach gewesen, zu einem Kongreß zu fahren. Aber als er die Einladung zu dieser Sache seinerzeit erhalten hatte, war Agnes sofort Feuer und Flamme gewesen, dann können wir doch unser Russisch ausprobieren, und nun war er gefahren, weil es ihm trotz des Schmerzes das Gefühl gab, mit ihr verbunden zu sein. Leskov und er waren beide nach Sitzungsbeginn im Foyer des Konferenzgebäudes sitzen geblieben und waren so ins Gespräch gekommen, es war, dachte er, ähnlich gewesen wie damals mit Angelini. Leskov war ihm am Anfang gar nicht sympathisch gewesen, ein schwerer, etwas schwammiger Mann mit groben Gesichtszügen und Glatze, begierig, mit Kollegen aus dem Westen zu sprechen, und deshalb in seinem Verhalten beflissen, beinahe unterwürfig. Er redete wie ein Wasserfall, und Perlmann, der lieber seine Ruhe gehabt hätte, fand ihn zuerst aufdringlich und lästig. Doch dann hatte er aufgehorcht: Was dieser Mann in manchmal antiquiertem, aber beinahe fehlerfreiem Deutsch über die Rolle von Sprache für das Erleben, vor allem das Erleben von Zeit, sagte, fing an, ihn zu fesseln. Er beschrieb Erfahrungen, die Perlmann seit langem vertraut waren, ohne daß es ihm gelungen wäre, sie so treffsicher, nuanciert und zusammenhängend zu beschreiben wie dieser Russe, der mit dem feuchten Pfeifenstiel zwischen den klobigen Fingern ständig in der Luft herumfuchtelte. Sehr bald spürte Leskov Perlmanns wachsendes Interesse, er war glücklich darüber und schlug vor, ihm etwas von der Stadt zu zeigen.
Er führte ihn quer durch die Stadt zum Winterpalast. Es war ein klarer, sonniger Vormittag Anfang März, Perlmann erinnerte sich vor allem an die Häuser in einem hellen, verwaschenen Ocker, das von der Sonne zum Leuchten gebracht wurde, in seiner Erinnerung bestand ganz St. Petersburg aus dieser Farbe. Leskov neben ihm zeigte viel, erklärte viel, ein Mann in einem abgewetzten, grünen Lodenmantel, mit Pelzmütze und Pfeife, der sich mit schwerfälligen, umständlichen Schritten fortbewegte, mit den Armen rudernd und ein bißchen schnaufend. Perlmann hörte oft nicht zu, seine Gedanken waren bei Agnes, die sich immer wieder vorgenommen hatte, zum Fotografieren hierherzufahren, am liebsten im Sommer während der weißen Nächte. Manchmal blieb er stehen und versuchte, einen Ausschnitt seines Gesichtsfeldes mit ihren Augen zu sehen, ihren Schwarzweiß-Augen, denen es nur um Licht und Schatten gegangen war. Auf diese Weise, dachte er, als er jetzt in dem Text blätterte, war eine merkwürdige assoziative Verbindung zwischen Agnes und diesem Russen entstanden: Leskov als Fremdenführer auf Perlmanns imaginärem Spaziergang mit Agnes durch St. Petersburg.
Die Stunden im Winterpalast dann, in der Eremitage, schufen eine sonderbare Intimität zwischen den beiden Männern. Perlmann verriet seinem Begleiter, der ihm ja doch sehr fremd war, daß er dabei war, Russisch zu lernen, worauf Leskov über das ganze Gesicht strahlte und sofort
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