Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Fall.
Vorhin hatte er zweimal danebengegriffen, aber die Erleichterung ließ ihn das vergessen, und nun kam die dramatische, technisch schwierigere Passage. Er hatte keine Zeit mehr, davor Angst zu haben, und plötzlich explodierte es in seinen Händen, und er spielte die Stelle fehlerlos herunter, als habe er sie erst heute morgen noch geübt. Ein gewaltiges Gefühl der Erleichterung, fast des Übermuts, bemächtigte sich seiner. Der Schmerz in den Fingern war jetzt unwichtig, und während er das Stück zu Ende spielte, war er plötzlich sicher: Dann schaffe ich auch die Polonaise.
Vorher aber brauchte er noch Zeit, um sich zu sammeln. Dafür eignete sich das dritte, technisch leichte Stück aus Opus 15, bei dem zudem die Finger geschont wurden. Er war nicht mehr ganz bei der Sache, es hatte in ihm zu arbeiten begonnen, und so geriet ihm das erste Drittel zu einer flachen, glanzlosen Folge von Tönen. Doch dann kamen die Debussy-Stellen, wie Szabo sie in ihren Auseinandersetzungen getauft hatte. Die melodiöse Struktur wurde schwächer, die Töne schienen ziellos zu zerfließen und bekamen etwas Unentschiedenes, Abwartendes, beinahe Zufälliges. Perlmann, pflegte Szabo mit einem ärgerlichen Seufzer zu sagen, Sie können das nicht spielen, als sei es Debussy. Da ist immer noch eine klare Melodie, eine klare Logik drin. Man hat fast den Eindruck, Sie wollten einer Melancholie der Auflösung das Wort reden. Schwermut: meinetwegen. Aber Chopin! Perlmann gab den Tönen soviel Unbestimmtheit wie möglich. Zum Teufel mit Szabo. Es war eine Kriegserklärung an Millar und seine Strukturbesessenheit, und Perlmann widerstand nur mit Mühe der Versuchung, zu ihm hinüberzublicken. Er spürte, wie sich etwas in ihm zu lösen begann. Er war dabei, sich gegen diesen Brian Millar zu behaupten und auch vor den anderen zu sich selbst zu stehen. Und nun tat er etwas, was er während eines öffentlichen Vortrags für undenkbar gehalten hatte: An späterer Stelle wiederholte er zwei der Passagen, in denen ihm diese Selbstbefreiung am besten zu gelingen schien. Es hatte eines Rucks bedurft, um sich über die innere Gegenwart Szabos hinwegzusetzen, und jetzt hielten sich Trotz und schlechtes Gewissen die Waage.
Sich jetzt sofort in die As-Dur-Polonaise zu stürzen – nein, das war doch zu gewagt. Vorher brauchte er noch etwas technisch Anspruchsvolleres als das Bisherige. Wegen des Selbstvertrauens. Ganz sicher war er ja doch nicht. Der As-Dur-Walzer aus Opus 34. Ein Stück, das er damals bei vielen festlichen Gelegenheiten gespielt hatte, fast bis zum Überdruß. Es müßte auch heute noch einwandfrei kommen. Es hatte einige Akkordläufe, die denen in der Polonaise glichen. Und danach war er auf die Tonart eingestimmt.
Zu Beginn passierten ihm zwei Pedalfehler, und einmal nahm er eine Taste zuviel mit. Sonst aber ging es einwandfrei. Als es von neuem zu donnern begann und das Gewitter eher wieder näherzukommen schien, blieb er mühelos im Takt. Er begann leicht zu frösteln, aber jetzt war das nicht, wie so oft in den vergangenen Tagen, Ausdruck der Angst, sondern der gespannten Erwartung. Er konnte die Polonaise spielen. Er würde sie spielen. Das sagten ihm seine Arme und Hände, die sich sehr sicher und stark anfühlten.
An die Narbe hatte er gar nicht mehr gedacht, da durchfuhr ihn ein Schmerz wie von einer Nadel. Er mußte drei Anschläge des linken Ringfingers auslassen, verlor die Konzentration und verpfuschte den nächsten Akkordlauf der rechten Hand. Zwar fand er danach das Gleichgewicht wieder, aber die Zuversicht war zusammengebrochen. Die mächtigen Akkorde der Polonaise, auf die alles ankam, türmten sich vor ihm auf wie riesige Hürden, und jetzt brannten auch die wunden Finger an der rechten Hand viel stärker als vorher. Das Stechen war vorbei, aber sein weiteres Spiel war voller Zögern und enthielt eine Verlangsamung, die der Walzer nicht vertrug. Es ist unmöglich, Danach höre ich auf. Als der Schluß in Sicht kam, beschleunigte er noch einmal. Das Stechen, das jetzt kam, war nicht ganz so stark wie vorhin, aber es genügte, um ihm den Schlußlauf vollständig zu verderben, so daß er in den letzten Akkord nur noch hineinschlitterte.
Es war beschämend, so aufhören zu müssen, und Perlmann war voller Wut über sich selbst, wenn er daran dachte, daß er sich durch den Mordplan, den völlig unnötigen, nun auch noch diesen Versuch der Selbstbehauptung kaputtgemacht hatte. Trotzdem wäre er aufgestanden und zu
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