Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
seinem Sessel hinübergegangen. Wenn Millar in diesem Augenblick nicht mit den Geldscheinen der Wette gewedelt hätte. Während der Regen gegen die Scheiben peitschte, hielt er sie Leskov lächelnd hin, unbeeindruckt von der Tatsache, daß dieser irritiert abwinkte und daß auch die anderen ärgerliche Gesichter machten. Zuerst der Störversuch von vorhin, und jetzt das. Es war zuviel. Mitten in das beginnende Klatschen hinein begann Perlmann mit Opus 53, der As-Dur-Polonaise, die Chopin die Heroische getauft hatte.
Vom ersten Takt weg hörte er die Angststelle. Aber bis dahin waren es noch fast sieben Minuten. Bereits die ersten Akkorde und Läufe erforderten viel mehr Druck als alles Vorherige, und Perlmann biß vor Schmerz auf die Lippen. Bald aber konnte ihm der Schmerz nichts mehr anhaben. Wie immer überwältigte ihn diese Musik, sie hüllte ihn ein und gab ihm das Gefühl, die Welt mühelos auf Abstand halten zu können. Nach einer halben Minute begann der Anlauf zum großen Thema, das in mächtige, von oben herunterrauschende Akkorde gekleidet war. Die letzten Takte vor dem ersten dieser ausgreifenden Akkorde mußten eine Spur verlangsamt gespielt werden, um das einsetzende Thema richtig in Szene zu setzen. Das hatte auch Szabo eingeräumt. Perlmann aber, das war sein ständiger Vorwurf gewesen, übertrieb in unvertretbarem Maße. Er neigte dazu, das Einsetzen des obersten Akkords um mehr als eine Sekunde zu verzögern. Dadurch, fand er, wurde die Spannung erst richtig spürbar und die anschließende Befreiung gesteigert. Und um diese Befreiung ging es – darum, daß man für den Moment, in dem man mit beiden Händen und voller Kraft in die Tasten griff, Herr der Dinge war. Sie miβbrauchen diese Stellen, hatte Szabo gesagt. Sie sollen Chopin spielen und nicht sich selbst. Nehmen Sie sich ein Vorbild an Alfred Cortot.
Szabo verstummte, und Perlmann spielte sich in einen wahren Rausch hinein. Mit sicherem Griff hämmerte er die erlösenden Akkorde in die Tasten, und immer öfter erhob er sich dabei vom Stuhl, um sich noch besser in den Anschlag hineinstemmen zu können. Hemmungslos verzögerte er die Vorbereitungstakte, und mit jedem Mal geriet der einsetzende Akkord noch mehr zu einer musikalischen Befreiung aus Ketten. Als dann das Gewitter erneut losbrach, kam ihm das gerade recht. Denn genau jetzt, nach drei Minuten, kam die erste der beiden Stellen, an denen der gleiche, dunkle Akkord siebenmal hintereinander anzuschlagen war. Noch nie, schien ihm, hatte er Akkorde mit solcher Wucht gespielt. Den letzten Rest von Zurückhaltung überrennend trieb er, donnerte er seine ganze Wut in die Tasten hinein, die Wut auf Millar und all die anderen, die ihn bedrängten, die Wut auf Szabo, die Wut auf das Gewitter, das er übertönen mußte, und vor allem die ohnmächtige Wut auf sich selbst, auf seine Unsicherheit, Angst und Verlogenheit, die ihn in die mörderische Stille des Tunnels hineingetrieben hatten.
Danach taten die wunden Finger einen Moment so weh, daß es ihm das Wasser in die Augen trieb. Es streifte ihn die Vorstellung, die Narbe am Ringfinger würde beim nächsten heftigen Anschlag platzen, das Blut liefe über die weißen Tasten und versickerte in den Zwischenräumen, und die Finger verlören in dem roten Geschmiere den Halt. Aber das Bild war zu flüchtig, um sich halten zu können, und während der nächsten, vierten Minute ging Perlmann ganz in der Anstrengung auf, das Anschwellen von anfänglich ruhigen, fast harmlosen Takten bis hin zu einem aufgewühlten, kochenden Klangbild so bruchlos und zwingend zu spielen wie damals im Konservatorium, als er dafür viel Lob geerntet hatte. Dabei trug die linke Hand am meisten zur Steigerung bei, und er war froh, daß der starke Schmerz im Finger mittlerweile zu etwas Konstantem geworden war, auf das er sich einstellen konnte, und ihn nicht mehr in Form unberechenbarer Episoden anfiel. Die ganze Passage mündete wiederum in ein donnerndes Wiederholen eines einzigen Akkords. Dasselbe wiederholte sich danach noch einmal, aber dieses Mal folgte eine überraschende Auflösung in einer Folge heller, unbeschwerter Takte. Sie wurden von einer lyrischen Passage abgelöst, die, so wie Perlmann sie spielte, die Zuhörer an die verträumte Stimmung der Nocturnes erinnern mußte.
Es lief jetzt die sechste Minute. Während die Töne immer weicher und leiser wurden, brach Perlmann der Angstschweiß aus, und die Finger schienen von einer Sekunde zur nächsten feucht
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