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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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er und rückte die Brille so langsam zurecht, daß es an eine Zeitlupe erinnerte.«Aber es ist lange her, und ich bin kein Chopin-Kenner. »
    Einen Moment lang sah Perlmann nur den Widerschein des Kronleuchters in seinen Brillengläsern. Der Blick, den er dann auffing, enthielt keinen Argwohn. Aber es lag eine glitzernde Nachdenklichkeit darin, die, so schien es, förmlich darauf wartete, zum Verdacht werden zu können. Perlmann setzte ein unverbindliches Lächeln auf.
    «Ich mag die eindringliche Art, in der das Thema immer wieder kommt», sagte er.
    Als Millar unvermittelt aufstand und sich an den Flügel setzte, erwartete niemand etwas anderes als Bach. Das, was er spielte, hätte indessen kaum weiter entfernt von Bach sein können. Es war das Allegro agitato molto aus den Etudes d’exécution transcendante von Franz Liszt. Perlmann kannte das Stück nicht, wußte aber sofort, daß es Liszt sein mußte. Millar spielte es nicht ohne Fehler, und von Zeit zu Zeit mußte er ein bißchen das Tempo zurücknehmen. Trotzdem war sein Spiel für einen Amateur eine Glanzleistung, und es gab Perlmann mehrmals einen Stich, als er ihn technische Schwierigkeiten bewältigen hörte, die alles in der As-Dur-Polonaise in den Schatten stellten.
    Er selbst hatte immer einen Bogen um Liszt gemacht. Es gab etwas an seiner besonderen Form der Exaltiertheit, das ihn abstieß. Und wenn jemand Chopin und Liszt in einem Atemzug nannte, wurde er wütend. Daß Liszt ihn deutlicher als jeder andere Komponist an die Grenzen seiner technischen Begabung erinnerte, das wußte er, und auch, daß sich in seine geschmackliche Abneigung Angst mischte. Doch genauer hatte er das alles nie analysieren mögen.
    Als das Stück zu Ende war, zog Millar den Blazer aus und warf ihn auf den nächstgelegenen Sessel. Auf seinem Gesicht lag Schweiß. Niemand klatschte, seine energischen Bewegungen kündigten viel zu deutlich eine Fortsetzung an. Es war La leggierezza, was er jetzt spielte, eine der Trois études de Concert von Liszt. Das Stück kam Perlmann bekannt vor, auch wenn er sich nicht an den Titel erinnerte. Erneut spürte er Neid, besonders bei bestimmten Läufen und Trillern. Tröstlich war immerhin, daß Millar bei dem unglaublich langen Lauf, der mit gläserner Helligkeit herunterrieselte, ins Stolpern geriet und leise fluchte.
    Es war kurz nach diesem Lauf, daß Perlmann es bemerkte. Es sind nicht Wellen, Philipp, hörte er Hanna sagen, es sind Bänder – helle, gewellte Bänder, wie die Mädchen sie beim Bodenturnen hinter sich herziehen. Von da an hatte er immer dieses Bild vor sich gehabt, wenn er Chopins f-Moll-Etüde aus Opus 25 hörte oder spielte, in der die rechte Hand eine fast ununterbrochene Folge von regelmäßigen Achteln zu durchlaufen hatte, wobei der Charme des Stücks darin bestand, daß man sich kein besseres Medium für das Thema vorstellen konnte als eben diese Regelmäßigkeit. Und nun hörte er dieselbe Art von Bändern in dem Stück von Liszt. Sie waren nicht ganz so lang und ganz so regelmäßig, und manchmal war auch die linke Hand daran beteiligt. Aber es war dieselbe musikalische Idee. Und während Perlmann innerlich den Vergleich anstellte, kam ihm etwas ausdrücklich zu Bewußtsein, das ihn bisher nur in Form eines vagen, flüchtigen Stutzens gestreift hatte: Zwischen dem ersten Stück von Liszt, das Millar gespielt hatte, und Chopins f-Moll-Etüde gab es eine thematische Ähnlichkeit. Auch die Tonart war die gleiche. Mit wachsender Erregung versuchte er, die Erinnerung an Chopins Etüde über die vorhin gehörten Töne von Liszt zu legen wie eine Pause, deren Genauigkeit man überprüfen will. Das jetzt laufende Stück störte dabei, und er strengte sich an, es auszublenden. Gab es diese thematische Verwandtschaft wirklich? In der einen Sekunde war er ganz sicher, in der nächsten mißtraute er seinem Eindruck. Wenn er nur ein paar Minuten hätte, um die beiden Stücke hintereinander zu hören.
    Perlmann wachte aus seiner Konzentration erst auf, als er das Klatschen hörte und sah, wie Millar sich den Blazer über die Schultern legte, bevor er sich in den Sessel fallen ließ.
    «Liszt?»fragte von Levetzov.
    «Ja», lächelte Millar,«die beiden einzigen Stücke, die ich kann. Und ich habe immer gefunden, daß sie irgendwie zusammengehören. »
    Auf die letzte Bemerkung sprang Perlmann an wie auf einen gegnerischen Fehler im Schach, dem man sofort ansieht, daß er die gesamte Partie entscheiden kann.
    «Das ist ja auch

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