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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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geworden zu sein. Gleich kam der Anlauf zur letzten Wiederholung des Themas, und von dessen erstem Akkord weg, das wußte er auch heute noch ganz genau, dauerte es vierzig Sekunden bis zur Angststelle. Dreiundvierzig, vielleicht vierundvierzig, wenn er, diesmal aus panischer Berechnung heraus, wieder verzögerte. Die Stelle selbst dauerte keine zehn Sekunden. Danach kam noch eine beschleunigte und verkürzte Version des Themas mit sieben skandierten Schlußakkorden, dann war es vorbei.
    Perlmann verzögerte die letzten lyrischen Töne, bis es sich nicht mehr vermeiden ließ zu beschleunigen und zur Vorbereitung des Themas in die tiefen Akkorde abzusteigen. Als er dann, all seinen Trotz gegen die Angst aufbietend, den ersten Akkord des Themas anschlug, fühlte er sich wie einer, der nach einer Reihe von vernichtenden Verlusten alles, was ihm geblieben war, auf eine Karte setzte, wissend, daß die Gewinnchancen verschwindend gering waren. Es ist grotesk, auf einen krachenden Donner in den entscheidenden Sekunden zu hoffen. Er versuchte, sich in das kahle Übungszimmer des Konservatoriums zurückzuversetzen – er war einer, der ganz für sich allein spielte. Es half, dieses Exerzitium, aber er hatte zu spät damit begonnen, gleich kam der lange Lauf von unten her, und dann war es soweit. Er wußte später nicht mehr, wie er es gemacht hatte, aber plötzlich war er wieder mitten im Thema und wiederholte zwei längere Passagen vom Anfang. Verwirrt durch das eigene Manöver konzentrierte er sich erneut auf das Spielen im leeren Zimmer. Ein weiteres Mal konnte er sich nicht drücken. Er hörte die beiden rasenden Läufe, die so schnell durch das Gefüge der übrigen Töne schossen, daß man ihrer erst richtig gewahr wurde, wenn der letzte, helle Ton aufblitzte. Mit den übrigen Läufen hatte es ja eigentlich gut geklappt. Unmöglich war es also nicht, wenngleich die beiden kritischen Tonfolgen, die wie Striche sein mußten, noch zu einer ganz anderen Kategorie von Schwierigkeit gehörten.
    Zum allerletztenmal das volle Thema. Der lange Lauf von unten, der noch ein menschliches Tempo hatte. Eine Serie vertrauter, leichter Akkorde. Jetzt. Perlmann spürte nichts mehr, als seine Finger über die Tastatur glitten. Auch die Angst hatte aufgehört. Knapp zehn Sekunden lang durchlebte er eine Gegenwart voll von gefühlloser Angespanntheit, während derer er nichts anderes war als Handbewegung und Gehör. Und dann, mit dem hellen Endpunkt des zweiten Laufs, wußte er es, obwohl er es noch nicht glauben konnte: kein Fehler. Kein einziger. Nicht einer. Der Rest war ein Kinderspiel.
    Wie betäubt blieb er einen Moment sitzen. Ein Schauer der Erschöpfung lief durch ihn hindurch, und im ersten Augenblick wollten ihm die Beine nicht recht gehorchen, als er aufstand. Ein kostbarer Moment der Gegenwart. Er hätte alles darum gegeben, ihn für immer festhalten zu können.
    Der Beifall, an dem sich auch fremde Hotelgäste beteiligten, war laut und anhaltend. Das lauteste Klatschen kam aus dem Korridor, wo Perlmann jetzt Giovanni und Signora Morelli entdeckte. Als sich ihre Blicke trafen, stellte Giovanni zum Zeichen des Erfolgs den Daumen auf. Es war, als ob er ihm zu einem erzielten Tor gratulierte. Seine Geste bedeutete Perlmann in diesem Augenblick mehr als alles Klatschen. Doch noch viel wichtiger war Signora Morellis Blick. Es war derselbe Blick, mit dem sie ihn Montag nacht angesehen hatte, als er mit Tränen in den Augen von seiner Erleichterung sprach. Jetzt lächelte sie ihm zu und brachte den Applaus mit ihrem Klatschen noch einmal in Gang. Es war, als ob ihn diese stumme Begegnung über den ganzen Raum hinweg gegen die Meinung der anderen immun machte. Es war beinahe schon gleichgültig, was sie dachten.
    Leskov war der letzte, der mit dem Klatschen aufhörte.«Ich hatte keine Ahnung... », begann er, und die anderen nickten bestätigend.
    Perlmann war sparsam mit seinen Auskünften, kostete aber jede einzelne aus.
    Warum er denn nicht früher schon...?
    «Ich mag Auftritte nicht», sagte er und sah haarscharf an Millar vorbei.«Ich bin mit der Musik am liebsten ganz allein. »
    Die Art, wie die anderen ihn betrachteten, hatte sich in der letzten halben Stunde verändert. Jedenfalls wollte er das mit aller Macht glauben. Und die jetzt eintretende Gesprächspause, in der die Überraschung nachzuklingen schien, sprach dafür.
    Millar spielte mit den eingerollten Geldscheinen.«Ich hatte die Polonaise kürzer in Erinnerung», sagte

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