Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
einzigen Ton, zutraute. Alles andere von Chopin war technisch zu schwierig, die Gefahr der Blamage zu groß. Ferner gab es bei den Nocturnes keine Schwierigkeit mit dem Gedächtnis. Mit diesen Stücken war er aufgewachsen, er hatte sie Hunderte von Malen gehört und gespielt.
Wenn nur das verfluchte Problem mit dem Rhythmus nicht wäre. Er hatte ein sehr exaktes und müheloses Rhythmusempfinden. Aber es dauerte stets eine Weile, bis es sich einstellte und das innere Metronom zu ticken begann. Die ersten Takte spiele er so, wie einer gehe, den man gerade unsanft aus dem Schlaf gerissen habe, hatte Bela Szabo immer gesagt. Und er hatte recht: Wenn das Gefühl für den Rhythmus dann griff, war es wie ein Aufwachen, es entstand eine befreiende Sicherheit in Kopf und Händen, und er hatte dabei jedesmal den Eindruck, noch nie zuvor richtig wach gewesen zu sein, so wach wie gerade jetzt. Er hatte gelernt, diese kurzen Phasen der Unsicherheit hinter sich zu bringen, bevor er jemandem vorspielte. Jetzt aber würden es alle hören.
Er begann mit Opus 9, Nummer 1 in b-Moll. Ohne Pflaster fühlte sich der Ringfinger der linken Hand kühler an als die anderen, und als er die Tasten berührte, spürte er nicht, wie erwartet, Schmerz, sondern einen feinen, klebrigen Film. Trotzdem kam der Anschlag gut, fand er, die befürchtete Fremdheit der Berührung wich bereits nach wenigen Tönen. Er war gerade in den ersten Lauf hineingeglitten und konzentrierte sich auf die sonderbare Mischung aus Verschleppung und Beschleunigung, da brach mit einem ohrenbetäubenden Krach der Donner los. Der erste Knall war noch nicht verklungen, da leuchtete das kalte Licht eines Blitzes durch den Salon und mischte sich unangenehm mit dem warmen, goldenen Licht der Kronleuchter. Gleich darauf erzitterte alles unter einem neuen, noch lauteren Donner. Perlmann nahm die Hände von den Tasten. Die Köpfe waren jetzt alle dem Fenster zugewandt, durch das man draußen über dem Meer eine dichte Folge von Blitzen sehen konnte, grellen Verästelungen von gespenstisch kurzer Dauer. Er holte das Taschentuch hervor, befeuchtete es und säuberte den Ringfinger. Danach spürte er nun doch ein Brennen entlang der Narbe.
Als das Naturschauspiel vorbei zu sein schien und es abgesehen von einem fernen Grollen ruhig blieb, begann Perlmann noch einmal von vorn. Jetzt war das Gefühl für den Rhythmus sofort da, er hatte das ganze Stück klar vor Augen und wurde ruhig. Ja, er konnte sie noch, seine weichen und doch glasklaren Chopin-Töne – das einzige, was Szabo immer anerkannt und um das er ihn sogar ein bißchen beneidet hatte. Mit einem ähnlichen Anschlag, so stellte sich Perlmann vor, hatte Glenn Gould Chopin gespielt. Gläserne Klarheit mit Rändern aus Samt. Auch mit den perlenden Läufen war er zufrieden. Nur verträumt klang es nicht. Und das lag nicht daran, daß der linke Ringfinger jetzt, wo die Untermalung lauter wurde, richtig zu schmerzen begann und auch die beiden Finger der rechten Hand, die vorhin die Zigarette gehalten hatten, brannten, wenn sie sich aneinander rieben. Was war es dann?
Um jedes Klatschen zu verhindern, schloß Perlmann das zweite Nocturne aus demselben Opus nahtlos an. Wieder donnerte es, aber der Knall war jetzt nicht mehr direkt über dem Hotel, und er spielte weiter.
«Jetzt muß ich doch mal sehen, ob es regnet», sagte Millar halblaut und stand auf. Evelyn Mistral hielt den Finger an die Lippen. Millar ging hinaus.
Das war es, dachte Perlmann: Er verglich seinen Klang die ganze Zeit mit Millars Bach, und das wirkte wie eine Sperre, die verhinderte, daß er in die richtige Gemütsverfassung hineinfand. Er schloß die Augen, überließ sich mehr den Tönen und versuchte zu vergessen. Das dritte Nocturne gelang besser. Nur die wunden Finger wurden allmählich zum Problem.
Gegen Ende des Stücks kam Millar zurück, sein Räuspern war unüberhörbar.
Als nächstes wählte Perlmann die Nummer 1 in F-Dur aus Opus 15. Daß das eine Gefahr in sich barg, merkte er erst, als er schon mitten im Thema war. Mit einemmal spürte er, daß er ein Gesicht hatte. Hinter den geschlossenen Lidern begann es zu brennen. Um Gottes willen. Unwillkürlich streckte er den Rücken und kniff in einer gewaltsamen Grimasse die Augen zusammen. Sekunden des entsetzten Wartens. Nein. Es war gerade noch einmal gutgegangen. Im allerletzten Moment hatte er die Tränen zurückzudrängen vermocht. Das Stück in Des-Dur darf ich also nicht spielen. Auf gar keinen
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