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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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denken, und auch das langsam. Vor allem wollte er nicht in Sätzen denken, in artikulierten, ausformulierten Sätzen, die er innerlich hörte. Für lange, sehr lange Zeit wollte er nicht mehr nach Wörtern suchen, Wörter abwägen, Wörter vergleichen. Sein Denken sollte sich darin erschöpfen, daß er bestimmte Dinge tat statt anderer, daß er nach links ging statt nach rechts, in dieses Zimmer statt in jenes, daß er diesen Weg nahm statt jenen. Seine Gedanken sollten sich darin zeigen, daß er die Dinge in der zweckmäßigen Reihenfolge tat, daß es Ordnung gab in seinen Bewegungen, einen Sinn in seinem Verhalten. Darüber hinaus sollten die Gedanken auch für ihn selbst unbemerkt bleiben, ohne bewußte Spuren und vor allen Dingen ohne sprachliches Echo im Inneren. Auch wenn er den einen Satz schrieb statt eines anderen, sollte es im Kopf still bleiben. Der Stift sollte seinen Weg übers Blatt nehmen, seine Spur ziehen, ohne daß der Satz, der durch diese Spur zustande kam, eine innere Gegenwart besaß. Die Spur würde er am Ende dorthin schicken, wo sie von ihm einen Text erwarteten.
    Etwas anderes, was er mit großer Wachsamkeit vermeiden mußte, war das Ausrechnen fremder Gedanken. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken, was andere denken und tun mochten, wenn er dies oder jenes tat. Er würde tun, was er tat, und die anderen würden daraufhin tun, was sie taten. Mehr sollte da nicht mehr sein. Und auch seine detailversessene Phantasie mußte er zum Schweigen bringen. Das Training in Langsamkeit mußte er durch ein Training in Phantasielosigkeit ergänzen.
    Das erste, was er später beim Einschalten des Fernsehens sah, war eine Großaufnahme von Händen, die über Klaviertasten glitten. Gespielt wurde Bach. Sofort wechselte er auf einen anderen Kanal. Hier wurde ein russischer Physiker interviewt, und jemand übersetzte simultan. Perlmann behielt den Finger am Knopf der Fernbedienung, gleich würde er auch diesen Kanal abschalten, aber dann blieb er doch dabei, immer noch ein Satz, und noch einer, er spürte, wie er in einen Strudel geriet, der alles wieder heraufbeschwor, jetzt verlor der Dolmetscher die entscheidende Balance zwischen dem alten und dem neuen Satz, nein, jetzt muβt du das Vorherige sausen lassen und dich auf das Neue konzentrieren, Perlmann rief es ihm in Gedanken zu und rutschte ganz nach vorn auf die Kante des Sofas. Erst als die Anspannung zu einem Magenkrampf wurde, riß er sich los.
    Anschließend machte er einen langen Spaziergang durch den dunklen Park und achtete auf die Leere im Kopf. Als er beim Zubettgehen die Brille abnahm, dachte er an den Tunnel. Er schlief besser als in den ersten Tagen. Nur einmal schreckte er auf: Er hatte Signora Medici in Russisch drangenommen und dann festgestellt, daß er die Wörter selbst nicht wußte und seine eigenen Fragen vergessen hatte wie ein Seniler.

60
     
    Die nächste Woche verbrachte Perlmann mit dem Warten auf Leskovs Brief. Wenn der Text am Freitag angekommen war, konnte der Brief schon am Dienstag hier sein. Bis Samstag aber müßte er auf jeden Fall eintreffen. Stundenlang stand er am Fenster und wartete auf den Briefträger. Warum rief Leskov nicht an? Oder schickte ein Telegramm? Es gab in der ganzen Zeit keine halbe Stunde, in der Perlmann nicht an Leskov und den versprochenen Brief gedacht hätte. Aber es kam kein Brief. Wahrscheinlich hatte der Postbeamte am Flughafen recht gehabt, und es dauerte eine volle Woche. Am Montag kommt selten Post, hörte er Leskov sagen. Also konnte er erst am nächsten Dienstag mit dem Brief rechnen.
    Mitte der Woche kam das Angebot von Olivetti. Nun war doch von drei Monaten Probezeit die Rede. Seine Aufgaben: übersetzen von geschäftlicher Korrespondenz mit deutschen, englischen und amerikanischen Partnern; Betreuung der deutschen und englischen Ausgabe einer umfangreichen Werbebroschüre, die im nächsten Sommer herauskommen sollte; gelegentliches Dolmetschen auf Messen. Signor Angelini habe erwähnt, daß Perlmann auch Russisch könne; daran sei man für die weitere Zukunft besonders interessiert. Und schließlich wäre es schön, wenn er Signor Angelini bei der Zusammenarbeit mit den Universitäten unterstützen könnte. Sie boten ihm vier Millionen Lire pro Monat, knapp die Hälfte von dem, was er jetzt verdiente. Über Altersversorgung, Versicherungen und dergleichen werde man sprechen, wenn er grundsätzlich zugesagt habe. Für diese Dinge werde man eine Reihe von Unterlagen brauchen.
    Wer

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