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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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vollständiger Erschöpfung, gab ihm eine Beruhigungsspritze und schrieb ihn bis Ende des Jahres krank.
    Schlaflos verbrachte Perlmann den Rest der Nacht in einem Sessel und sah in den Garten hinaus, wo es gegen Morgen zu schneien begann. Ab und zu wickelte er sich noch fester in die Decke ein und genoß es, daß die Spritze alles verlangsamte und die Gedanken von ihm fernhielt.
    Kurz nach acht sagte er Frau Hartwig Bescheid. Seine Stimme klang so matt, daß sie keine einzige Frage stellte. Später trat er ins dichte Schneegestöber hinaus und ging langsam zur Bank, wo er die Kopie von Leskovs Text, die vom Wasser Blasen und braune Ringe bekommen hatte, ins Schließfach tat. Er kaufte das Nötigste ein, legte an der Tür die Kette vor und ging, nachdem er das Telefon herausgezogen hatte, ins Bett.
    Diesen Tag und die beiden nächsten verschlief er zum großen Teil. Wenn er für ein, zwei Stunden wach war, dachte er daran, wie Leskov auf die Post wartete. Lange hielt er die Vorstellung jeweils nicht aus und war froh zu spüren, daß die Erschöpfung ihn bald wieder in den Schlaf ziehen würde. Um vier Uhr in der Nacht zum Donnerstag wachte er vor Hunger auf. Er stellte fest, daß er acht Kilo abgenommen hatte, und zwang sich, ein richtiges Essen zu kochen. Nach einigen Bissen widerstand es ihm, und er ließ es stehen. Während er, ohne der Handlung zu folgen, auf einen alten Western starrte, der im Nachtprogramm lief, aβ er langsam ein halbes Brot und trank Kamillentee, der ihn an die Zeit der Kinderkrankheiten erinnerte. Seit Turin hatte er keine Zigarette mehr geraucht, und es war ihm auch jetzt nicht danach.
    Am Donnerstag nachmittag war er länger wach. Während es draußen immer weiterschneite, saß er auf dem Sofa und betrachtete mit leerem Blick den Kaffeefleck auf dem Wohnzimmerteppich. Es kam ihm vor, als sei er, lautlos und ohne es recht zu merken, auseinandergebrochen und liege jetzt in vagen Stücken irgendwo draußen herum, weit von sich selbst entfernt, und nun ginge es darum, all diese verstreuten Stücke von einem imaginären Mittelpunkt aus an unsichtbaren Fäden wieder zu sich heranzuziehen und sorgsam zusammenzufügen, bis seine innere Gestalt wieder vollständig, fugenlos und aus einem Guß wäre.
    Als er von Zimmer zu Zimmer ging, um Agnes’ Fotografien zu betrachten, bewegte er sich gedämpft und mit bewußter Langsamkeit, wie ein Invalide. Der Postbeamte hatte es für möglich gehalten, daß der Text nur drei Tage brauchen würde. Die Auskunft war nur so hingeworfen gewesen. Aber er hatte die Frist immerhin genannt. Dann käme der Text heute in St. Petersburg an. Der Eilbote könnte ihn abends noch zu Leskov bringen. Auf jeden Fall würde er morgen früh ausgeliefert. Kommt so etwas wirklich an? Bei dem Chaos dort?
    In dieser Nacht träumte er von Signora Medici, die in Pian dei Ratti wohnte. Sie lehnte den ganzen Tag im Fenster und beobachtete, wie er, mit Leskov als Fahrlehrer neben sich, vor der Schieferschleiferei das Geradeausfahren übte, wobei er gegen den ständigen Linksdrall des Steuerrads anzukämpfen hatte. Sie können ruhig deutsch sprechen, rief die Signora immer wieder, dann geht es besser!
    Er wachte schweißnaß auf und kochte Kaffee. Sechs Sprachen. Wenn er das Russische mitrechnete, kam er bei sich auch auf diese Zahl. Er zündete eine Zigarette an. Eingehüllt in das Schwindelgefühl, das nach dem ersten Lungenzug einsetzte, nahm er sich die Signora vor. Er jagte sie durch alle Sprachen, die er konnte, und stellte ihr erbarmungslos die gemeinsten Fallen. Es war bereits nach acht und taghell, als er sich von diesem haßgetränkten Zwang endlich zu befreien vermochte.
    Jetzt konnte der Eilbote jeden Moment bei Leskov klingeln. Die Verzweiflung war zu Ende, er konnte sofort mit dem Abschreiben und dem Füllen der Lücken beginnen. Noch genau eine Woche blieb ihm. Hoffentlich war er, wenn der Bote kam, nicht schon zur Universität unterwegs, um dort zu warten. Die meisten Briefkästen waren für einen Umschlag dieses Formats zu klein, und es konnte wer weiß was passieren, wenn er einfach vor die Tür gelegt wurde.
    Jetzt war er soweit, daß er Kirsten anrufen konnte. Er holte sie aus dem Bett. Sie hatte jeden Abend zur gewohnten Zeit angerufen. Wo er denn gesteckt habe? Er wich aus, sagte etwas von öden beruflichen Essen. Von der Klinik und davon, daß er krank geschrieben war, erwähnte er nichts. Kirsten druckste herum, bevor sie sagte, sie käme wohl erst zu Weihnachten

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