Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
neuem alle Kanäle durch.
Er hatte befürchtet, wieder vom Tunnel zu träumen. Statt dessen kämpfte er die halbe Nacht, wie ihm schien, mit einem Computer, der immer dann, wenn er eine Datei löschen sollte, statt dessen eine Sicherungskopie erstellte. Brian Millar sah ihm dabei über die Schulter und war so nahe, daß sein Atem zu spüren war. Auf einmal schob sich sein Arm vor Perlmanns Gesicht und stellte ihm einen Teller hin, auf dem sich eiskaltes Essen türmte. Perlmann drehte sich zu ihm um, und als er den Kellner erkannte, warf er ihm das Essen mit soviel Schwung ins Gesicht, daß die Hälfte auf Evelyn Mistrals Haar und ihre blütenweiße Bluse spritzte.
Am Sonntag begann er damit, einen Teil von Agnes’ Fotografien abzuhängen und wegzuräumen. Es sollten nur noch einige wenige übrigbleiben, nicht unbedingt die besten, sondern diejenigen, zu denen es eine persönliche Geschichte gab. Zum Beispiel das Bild mit der kleinen Kirsten im Strandkorb auf Sylt. Es war Schwerarbeit, und mehr als einmal bekam er Herzstiche. Schließlich hatte er den Eindruck, zu weit gegangen zu sein, und hängte eine Reihe von Bildern wieder auf, wobei der Putz beim zweiten Einschlagen des Nagels zu bröckeln begann.
Gegen Abend rief Evelyn Mistral an. Es wurde ein Gespräch mit vielen Pausen. Dabei wünschte Perlmann, sie säße ihm gegenüber. Ob er etwas von Leskov und seinem Text gehört habe? Nein, sagte er, nichts.
«Du erinnerst dich doch noch an den Anruf, der mir nach dem Empfang im Rathaus plötzlich einfiel», sagte sie gegen Ende des Gesprächs.«Es war doch gut, daß ich angerufen habe. Es ging wieder einmal alles schief, was schiefgehen konnte. Und die Küstenstraße war ja ohnehin gesperrt!»lachte sie.
In der folgenden Woche setzte er sich an die Buchbesprechung. Er sah den Autor vor sich, einen glitzernden Berliner mit einer französischen Frau und einem Haus an der Cöte d’Azur. Er mußte viele Pausen machen, und manchmal, wenn der Widerwille heftig wurde, fühlte es sich in der Brust an wie Beton. Dann griff er zur Zigarette.
Im Schlüsselkapitel des Buches wurden Dinge als Neuentdeckungen ausgegeben, die Perlmann von einem wenig bekannten französischen Autor seit langem kannte. Er wußte genau, wo er hätte nachsehen können, das Buch stand oben rechts im Regal. Er wartete auf ein Gefühl des Triumphs oder wenigstens der ruhigen Genugtuung. Als es ausblieb, war er zunächst enttäuscht, dann aber froh. Er ließ das französische Buch im Regal, und in der Besprechung, die sachlich, fair und insgesamt positiv ausfiel, erwähnte er die Sache mit keinem Wort.
Mitte der Woche setzte er sich zum erstenmal wieder ans Steuer. Es überraschte ihn, wie dicht am Beifahrersitz die Handbremse seines Wagens war. Er fuhr über Land zu einem Teppichhändler, den er von früher kannte, und kaufte einen hellen tibetanischen Läufer, um endlich den Kaffeefleck zuzudecken. Auf der Rückfahrt, in der beginnenden Dämmerung, kamen ihm mehrere Lastwagen entgegen, und einer fuhr mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Perlmann bremste jedesmal bis auf Schrittempo ab und fuhr auf die Grasnarbe. Er beschloß, in der näheren Zukunft nicht mehr Auto zu fahren, und überlegte, ob er den Wagen Kirsten schenken sollte.
Als er in der Garage den Zündschlüssel abzog, fiel ihm jener Moment bei der Tankstelle neben dem Hotel ein, wo er zu begreifen geglaubt hatte, daß das Problem der inneren Abgrenzung gegen die anderen Menschen und das Problem der Gegenwartslosigkeit in der Tiefe ein und dasselbe Problem waren. Er erinnerte sich genau, daß ihm das als die wichtigste Einsicht seines gesamten Lebens erschienen war. Auf dem Weg zur Haustür formulierte er diese Einsicht immer wieder. Aber jetzt war sie nur noch ein Satz. Ein Satz zwar, der richtig klang und dem er zustimmte, aber nur noch ein Satz und keine erlebte Einsicht mehr. An der Haustür drehte er um, schloß die Garage auf und setzte sich noch einmal hinters Steuer, die Hand am Zündschlüssel. Nachher kam es ihm lächerlich vor anzunehmen, eine erlebte Einsicht könne in eine bestimmte Körperhaltung gegossen sein.
Am Freitag war immer noch kein Brief von Leskov da. Eigentlich kein Wunder, denn das vergangene Wochenende hatte er sicher gebraucht, um sich zu erholen, und ein Brief konnte eben, wie der erfahrene Postbeamte geschätzt hatte, eine volle Woche unterwegs sein. Vom Briefkasten kommend räumte Perlmann endlich die neuen Taschentücher weg und steckte eines in die
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