Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
nach Hause. Sie müsse noch zwei Referate halten, und außerdem wolle sie Martin beim Umziehen helfen. Perlmann verbarg seine Erleichterung und sagte ganz souverän, das sei doch selbstverständlich.
Am Nachmittag packte er den Koffer aus. Das Telefon klingelte, während er die blutbefleckte und die aufgerissene Hose in eine Tüte stopfte, die er zuband. Plötzlich ließ er die Tüte fallen und rannte in den Flur. Vielleicht ist er es. Aber das Klingeln hatte bereits aufgehört. Er trug die Tüte hinaus und warf sie in die Mülltonne. Die helle Jacke mit den Schmutzstreifen legte er für die Reinigung bereit. Der Blazer, der auf einem Bügel an der Garderobe hing, hatte am Rücken feine, weiße Spuren vom Schweiß. Das sah er erst jetzt. Er legte ihn zur Jacke. Dabei entdeckte er einen Streifen eingetrockneter Tomatensauce am Ärmel. Stronzo.
Die Chronik war im Koffer offenbar hin und her gerutscht, und dabei war der Umschlag eingerissen. Er warf ihn weg und legte den Band auf den leeren Schreibtisch. Daneben den ungeöffneten Umschlag von Frau Hartwig, die Einladung nach Princeton, die Aufzeichnungen. In Jakob von Gunten schlug er aufs Geratewohl eine Seite auf und las ein paar Sätze. Dann stellte er das Bändchen ins Regal. Er würde nie mehr darin lesen.
Für Medaille und Urkunde holte er eine neue Tüte. Es war das erste Mal, daß er die Urkunde entrollte. Sie lautete auf einen FILIP PERE-MAN, von nun an Ehrenbürger von Santa Margherita Ligure. Auf dem Weg zur Mülltonne mußte er wider Willen grinsen. Das letzte, was er auspackte, waren die neuen Taschentücher aus der Plastikhülle. Er hielt sie eine Weile unschlüssig in der Hand, dann legte er sie auf die Kommode im Flur.
Später holte er zwei Straßen weiter die private Post ab. Noch auf dem Postamt riß er Hannas Brief auf. Sein Anruf aus heiterem Himmel habe sie sehr gefreut, schrieb sie, aber auch beunruhigt. Er solle sich doch bitte melden, wenn er wieder zu Hause sei. Ob sie sich nicht wieder einmal sehen könnten? Ein paar Tage, dachte er, während er durch den Schneematsch stapfte, würde es noch dauern, bis er für diesen Anruf bereit war.
Der Fernsehzeitung entnahm er, daß an diesem Tag das Spiel zwischen Stuttgart und Juventus Turin stattfand, von dem Giovanni gesprochen hatte. Es lief schon seit einer halben Stunde. Roberto Baggio spielte, sein Name fiel am laufenden Band. Hätte er nicht getroffen, wäre es zum Plagiat gekommen. Perlmann wartete, bis es bei einem Einwurf eine Nahaufnahme seines Gesichts gab. Ein fremdes Gesicht, fand er, und schaltete ab. Aber eine Katastrophe wäre es nur geworden, wenn auβerdem Maria den Text nicht am Freitag noch fertiggeschrieben hätte. Wenn sie sich nicht erkältet hätte. Oder wenn Santini etwas Dringendes zu schreiben gehabt hätte.
Die Frau bei der Auslandsauskunft war sehr hilfsbereit. Vorliegen hätten sie von St. Petersburg nur einige Nummern großer Firmen. Aber sie könnten die dortige Vermittlung anrufen, um eine Privatnummer zu erfragen. Allerdings könne das sehr lange dauern, bis zu einem Tag. Ob sie ihn zurückrufen sollten? Perlmann gab ihr Leskovs Name und Adresse und sagte, die Tageszeit spiele keine Rolle, es könne auch mitten in der Nacht sein.
Als er nach dem Zettel mit Leskovs Adresse gesucht hatte, war er auf die beiden unbenutzten Flugscheine gestoßen: den ursprünglichen für den Heimflug Genua-Frankfurt, und den horrend teuren für den Flug nach Frankfurt am Samstag. Zusammen waren sie über tausend Mark wert. Er zerriß sie. Es war wie ein Sühneopfer.
Dann begann er, die Wohnung zu putzen. So hatte er sie noch nie geputzt. Überhaupt hatte er nie zuvor etwas so geputzt, mit einer derart wütenden, fanatischen Gründlichkeit. Noch die letzte Fuge und der letzte Winkel wurden blank gescheuert. Zwischendurch saß er, vor Schwäche schlotternd, auf einem Schemel und wischte sich mit einem Küchentuch den kalten Schweiß von der Stirn. Als er mit dem Arbeitszimmer fertig war, stand er lange am Fenster und sah in die Nacht hinaus. Dann nahm er das Bild von Agnes von der Fensterbank und stellte es auf einen kleinen Tisch in der Ecke. Als letztes kam ihr Zimmer dran, wo er noch immer nichts verändert hatte. Auf einem Stapel Bücher am Boden fand er ihr Exemplar der russischen Grammatik. Ihre Anstreichungen waren gröber und die Notizen sorgloser hingekritzelt als in seinem Exemplar, aber es waren nicht so viele. Mit dem Buch in der Hand ging er auf und ab. Er sah den
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