Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Tasche. Dann schrieb er den Absagebrief an Olivetti und einen zweiten Brief an Angelini. Als Grund gab er unvorhergesehene familiäre Probleme an, die ihn einstweilen in Frankfurt festhielten. Die beiden Briefe gelangen ihm schnell und mühelos. Er versuchte, den Schwung auszunutzen, und begann mit dem Brief für Princeton. Aber er kam nicht über die Anrede hinaus und machte daraufhin einen langen Spaziergang durch die vertraute Stadt, die ihm in dem trüben Dezemberlicht fremd vorkam.
Die Fotos von Laura Sand, die am Samstag ankamen, enttäuschten ihn, er wußte nicht warum. Es waren verträumte Landschaftsaufnahmen, einige davon mußte sie an dem nebligen Morgen gemacht haben, als er mit der Übersetzung von Leskovs Text fertig geworden war. In einem getrennten Umschlag lagen einige Aufnahmen von Kollegen, die sie, nach der Unbefangenheit von Haltung und Ausdruck zu schließen, unbemerkt gemacht haben mußte. Auf dem Zettel, der dabei lag, stand: Es gibt Ausnahmen von der Regel! Die Bilder, die ihn mit Leskov zeigten, warf er sofort weg, und auch die anderen Aufnahmen mit Kollegen landeten schließlich im Papierkorb. Nur einen Schnappschuß von Evelyn Mistral behielt er. Ihr Lachen; das verrutschte T-Shirt; die roten Schuhe. Die Landschaftsaufnahmen tat er in eine Schublade, ging dann eine Weile durch die Räume und betrachtete Agnes’ Fotografien. Eigentlich hätte er doch besser ihre besten ausgewählt, und nicht die persönlichsten. Er tauschte aus.
Nach dem Sonntagabendkonzert im Fernsehen setzte er sich an den Flügel. Er spielte die Nocturnes, die er damals im Salon gewählt hatte. Zwischen ihm und den Tönen war ein Vakuum, ein hauchdünner Hiat, der auch beim zweitenmal nicht verschwand. Er verstand nicht, was los war, und spielte die As-Dur-Polonaise. Daß er sich bei der Angststelle verhedderte, spielte keine Rolle. Schlimmer war, daß alles, auch die befreienden Akkorde, klang, als sei es eingetaucht in feinen Sand.
An Schlaf war nicht zu denken. Mitten in der Nacht setzte er sich im Schlafanzug an den Flügel und spielte andere Nocturnes. Sie klangen wie früher, und jetzt begriff er: Das, was er im Salon gespielt hatte, war von ihm weggerückt, weil er es mißbraucht hatte, mißbraucht als Waffe im Kampf gegen Millar. Das war noch ein anderer Mißbrauch als derjenige, den Szabo gemeint hatte. Musik durfte man nicht in dieser Weise als Instrument benutzen, sonst verlor man sie.
Gegen Morgen nahm er eine Schlaftablette. Als sie zu wirken begann, schoß ihm, ohne daß er vorher an den Tunnel gedacht hätte, ein Gedanke durch den Kopf: Leskov hatte ihn nie gefragt, warum er nicht einfach in der Wartebucht stehengeblieben war und den Bulldozer vorbeigelassen hatte. Warum nicht? Es wäre eine ganz einfache Frage gewesen, eigentlich die natürlichste. Und er hätte keine Antwort gewußt.
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In dem Bündel, das der Postbote am Dienstag in der Hand hielt, war Leskovs Brief. Perlmann sah es an dem bräunlichen Papier des Umschlags, das er von seinem früheren Brief her kannte. Noch im Flur riß er den Umschlag auf und suchte mit klopfendem Herzen und fiebrigem Kopf nach Sätzen, die ihn sofort beruhigen könnten.... es war kein Text da, als ich die Wohnung betrat... da glitt ich, ohne es zunächst recht zu merken, in einen Zustand der Apathie hinein... einen Zustand dumpfen Aushaltens, wortlosen Ertragens ... Wunsch, allem ein Ende zu machen... Und dann kamen die Worte, bei denen er zum erstenmal wieder atmete:... wenn der Text dann nicht doch noch aufgetaucht wäre... Er schloß die Augen und hielt sich einen Moment an der Kommode fest, bevor er, immer noch mit brennendem Blick, weiterlas:... liegt der Umschlag einfach am Hauseingang... den beiden gelben Aufklebern... Der Zustand des Texts war ein Schock... Siebzehn Seiten! Fünf endlose Absätze mußte er noch überfliegen, bis es endlich kam:... Ich habe, entgegen meiner Gewohnheit, die Privatadresse hingeschrieben, das ist alles ... Er drückte die Hand auf den Magen und atmete aus, um dann bis zur nächsten Erlösung weiterzuhetzen:... Tippfehler. Aber kurz nach acht am Freitag morgen war das Ding fertig... Und im übernächsten Absatz schließlich kam der Satz, in den sich sein Blick förmlich hineinfraß:... die Entscheidung stand gegen Mittag fest: Sie konnten ein fach nicht anders, als mir die Stelle zu geben.
Perlmann lehnte sich gegen den Türrahmen, die Blätter glitten ihm aus der Hand, er begann lautlos zu schluchzen und schluchzte
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