Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
immer noch eine Sensation. Siestazeit. Auch die Eltern hatten sich etwas hingelegt. Einige Hotelgäste dösten in den Liegestühlen am Strand. Dort vorne war das Meer, das im Mittagslicht flimmerte, und jener flirrende Glast, das war die Gegenwart, dasjenige, worauf es eigentlich ankam. Einige Kinder waren im Wasser, bespritzten sich und jauchzten. Er hatte es damals, mit seinen dreizehn Jahren, natürlich nicht als einen ausdrücklichen Gedanken gedacht, aber er hatte sich verhalten und hatte gefühlt, als müsse er erst all diese Lateinvokabeln und unregelmäßigen Verben beherrschen, bevor es ihm erlaubt wäre, selbst auch in jene gleißende Gegenwart hinauszugehen.
Perlmann schlug die Chronik auf. Im Juli mußte das gewesen sein. Was da über Politik stand, las er, als sei es vor seiner Geburt geschehen, so wenig hatte es damals mit seinem Leben zu tun gehabt. Das galt für Eisenhower wie für König Faruk, und mit dem Tod Kurt Schumachers im Monat darauf war es nicht anders. Benedetto Croce schließlich, das war wie aus einer anderen Welt. Nur an Juan Manuel Fangio, den Rennfahrer, erinnerte er sich, und am Tag nach der Rückkehr aus Italien hatte es jenen Radiobericht über die Beerdigung Evita Peróns gegeben. Man hatte vor dem kleinen Radio gesessen, und die melodramatische Stimme des Sprechers, zerhackt von atmosphärischen Störungen, hatte jenen Trauerzug zu etwas Mythischem verklärt, so daß die Mutter weinte. War es damals, daß er das Phänomen der Zeitverschiebung zwischen Kontinenten begreifen lernte? Denn es war ja schon sehr merkwürdig, wie Hunderttausende spätabends durch den argentinischen Nachmittag schritten.
Zum Tag des Circusbesuchs mit Hanna machte die Chronik nur eine einzige Angabe: Antonio Segni, der damals noch italienischer Ministerpräsident war, brach zur einer Reise nach Washington auf.
Einige Wochen später war Die Brücke von Bernhard Wicki angelaufen. Er hatte die Eintrittskarten schon in der Hand, da hatte Hanna noch einmal in den Schaukasten geguckt und gesagt, nein, solche Bilder ertrage sie einfach nicht. Das war der Anfang der kritischen Zeit zwischen ihnen gewesen, und als sie mit wehendem Mantel durchs Foyer des Filmpalasts gerannt war, hatte es mehr wie eine Flucht vor ihm als vor den Bildern ausgesehen.
Sandras Gesicht war erhitzt, das offene Haar zerzaust. Sie begrüßte Perlmann nur flüchtig, und an der Art, wie ihre Ausgelassenheit bei seinem Anblick erlosch, konnte man erkennen, daß seine Anwesenheit sie an die Klausur erinnerte, und daß sie davon jetzt nichts wissen wollte. Perlmann zahlte.
Sich aneignen, dachte er, als das Hotel in Sicht kam: Das könnte mit osvaivat’ gemeint sein. Sich die eigene Vergangenheit durch erzählerisches Erinnern aneignen. Was konnte das in Leskovs Theorie heißen? Und was hieß es eigentlich sonst?
Es war kurz vor drei, als er den Text zu Ende gelesen hatte. Erschöpft trat er ans offene Fenster. Es war totenstill. Er fühlte sich verkatert und, was schlimmer war, eines Halts beraubt. Was sollte er machen, jetzt, wo ihn die Aufgabe, sich Leskovs Text zu erschließen, nicht mehr trug?
Was Leskov auf den letzten Seiten schrieb, dachte er, als er sich auszog und unter die Decke schlüpfte, ergab kein klares, stimmiges Bild. Da war zunächst die Idee, daß Aneignung – wenn das denn wirklich der Begriff war – eine Form von Verstehen sei: Man eigne sich die eigene Vergangenheit an, indem man daraus einen Sinn mache. Das Verstehen, das durch das erzählerische Erinnern erreicht werde, schrieb Leskov weiter, bringe das entscheidende Gefühl der Zugehörigkeit zu einem selbst hervor. Und entsprechend interpretierte er den Geschmack der Fremdheit, den ein vergangenes Erleben an sich haben konnte, als eine Lücke im Verstehen. Durch das erzählerische Erinnern, das war das etwas sehr plakative Resümee, bekomme eine Person allererst eine seelische Identität über die Zeit hinweg. Also: ohne Sprache keine seelische Identität.
Perlmann fühlte sich zu diesem Gedanken hingezogen, für Momente war er begeistert von ihm. Dann wieder war ihm unwohl: Gab es seelische Identität nicht auch im Sinne einer gewachsenen Gefühlsstruktur, um die herum sowohl die Handlungen als auch die Phantasie eines Menschen kreisten, gleichgültig, ob das Gefüge der Empfindungen zur sprachlichen Artikulation gelangte oder nicht? Aber das war noch nicht das eigentliche Problem von Leskovs Theorie, dachte er, während er, entgegen aller Gewohnheit, im
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