Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
er zu verstehen, was damals bei der Wahl des Studienfachs geschehen war. Ein Mißverständnis war es, nichts weiter. Und dieses Mißverständnis war im Grunde so simpel, dachte er, daß es einem den Atem verschlug: Gerade eben hatte er mit dem Verlassen des Konservatoriums von der Hoffnung Abschied genommen, im Klavierspiel die Gegenwart überlisten und herbeizwingen zu können. Denn das bloße Hören von Musik, das würde niemals weiter reichen als bis zur gesteigerten Sehnsucht nach Gegenwart. Und nun stürzte er sich in die Beschäftigung mit Sprache als dem Medium, das an die Stelle der Musik treten und die unerfüllten Hoffnungen auf Gegenwart einlösen sollte. So mächtig waren diese Hoffnungen gewesen und so atemlos der Wechsel, daß er die eine simple Tatsache übersehen hatte: Sprache schuf Gegenwart dann, wenn man sich in sie hineinfallen ließ, wenn man in ihr schwamm und mit ihr spielte, und nicht dann, wenn man sie sezierte und sie mit den Augen desjenigen betrachtete, der nach Gesetzen suchte, nach Erklärungen, Systematisierungen und Theorien. Es war zum Lachen einfach, jedes Kind wußte das. Und doch hatte er die beiden Dinge verwechselt und hatte sich, verliebt in die impressionistische, sinnliche Dichte der Sprache, einer analytischen Anstrengung verschrieben, die ihn systematisch von dem Gesuchten wegführen mußte, weil sie ganz einfach anders definiert war.
Während Silvestri von Experimenten zur Aphasie berichtete und damit eine hitzige Diskussion auslöste, war Perlmann im Auditorium Maximum der Hamburger Universität und nahm aus den Händen des Rektors sein Studienbuch entgegen. Ob er damals, als er unter dem Lichtbild und seinem Namen den Eintrag Sprachwissenschaft sah, wirklich gespürt hatte, daß etwas nicht stimmte, oder ob er das warnende Unbehagen nachträglich in den fernen Augenblick hineinlas, war nicht zu entscheiden. Und wenn man Leskov glaubte, war das eine sinnlose Frage. Jedenfalls kam es ihm jetzt so vor, als sei er von der Menge der anderen im Saal durch eine feine, unbenennbare Lücke getrennt gewesen, die etwas damit zu tun hatte, daß diese anderen ihre selbstgewählte Zugehörigkeit zu einem Fach mit größerer Begeisterung erlebt hatten als er. Und je länger Perlmann dieser tückischen kleinen Lücke nachsann, desto mehr keimte in ihm der Verdacht auf, daß sein Handeln schon damals einer Vagheit und inneren Unbestimmtheit entsprungen war, auf deren Grund Gleichgültigkeit gegenüber der ganzen Idee des Studierens und Forschens lag, eine Gleichgültigkeit, die zu entdecken und anzuerkennen er dreißig Jahre gebraucht hatte.
Der Aufbruch der anderen schreckte ihn auf, so weit weg war er gewesen. Ob er denn gar nichts auszusetzen gehabt habe, fragte ihn Ruge beim Hinausgehen. Perlmann war noch erfüllt von der eben gewonnenen Einsicht in die Logik seines Mißverständnisses, und es gelang ihm ein entspanntes Lächeln. Er habe es einfach genossen, einmal nur zuzuhören, sagte er leichthin. Man müsse ja sonst soviel reden.
«Eh... ja, da haben Sie allerdings Recht», lachte Ruge, und Perlmann schien es, als sei dieses Lachen eine Spur weniger selbstsicher als sonst.
Millar stand an die Empfangstheke gelehnt und spielte mit dem Zimmerschlüssel. Jetzt trat er auf Perlmann zu. Wie es mit ihrer Verabredung sei?«Wegen jener Frage, meine ich. »
Perlmann bat Signora Morelli um den Schlüssel und suchte ihren Blick, als könne sie ihm helfen. Der Schutz, den ihm die Einsicht von vorhin gegeben hatte, war wie weggeblasen.
«Ich melde mich», sagte er schließlich und verschwand so schnell in Marias Büro, daß es an eine Unverschämtheit grenzte.
Die vielen Reifen an Marias Handgelenken klirrten bei jeder Bewegung, die sie am Computer machte. Heute hatte sie einen Kaugummi im Mund, und wie gewohnt atmete sie den Rauch während des Sprechens aus. Perlmann bat sie, wegen der Platte in Rapallo anzurufen. Scherzend brachte sie die Leute am anderen Ende dazu, trotz der beginnenden Siesta schnell nachzusehen. Keines der beiden Musikgeschäfte dort hatte die Platte, aber das zweite bot an, sie aus Genua kommen zu lassen, es würde ein bis zwei Tage dauern. Perlmann schüttelte den Kopf, als sie ihm das übermittelte, und daraufhin beendete sie das Telefonat, ein bißchen ratlos ob seiner unverständlichen Eile. Sie ließ keine Ungeduld erkennen, als Perlmann sie bat, es jetzt in Genua zu versuchen. Nur der Kaugummi knallte ab und zu zwischen ihren Zähnen. Sie kannte das
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