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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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eine Weile, bis er seine Randbemerkung wieder verstand. Leskov kam nun selbst auf diesen Punkt zu sprechen, und Perlmann wartete ungeduldig auf die These. Aber der Text ging die Frage auf Umwegen an. Zuerst wurde der Fall der erinnerten Gefühlsqualitäten erörtert. Wieder wurde der Text sehr schwierig, denn nun setzte Leskov den reichen russischen Wortschatz für Emotionen und Stimmungen ein, und diesen Nuancen war das Taschenwörterbuch nicht gewachsen. Gereizt und mit einem Gefühl sprachlicher Hochstapelei hangelte sich Perlmann von Beispiel zu Beispiel. Das Fazit war dann knapp: Wenn die Geschichte über die erlebte Vergangenheit neu erzählt werde, präsentierten sich auch die erinnerten Erlebnisqualitäten anders.
    Perlmann fand es ärgerlich, daß er die Beispiele wegen der sprachlichen Lücken nicht in ihrer ganzen Tiefe verstand. Denn so wußte er nicht, was er von der allgemeinen Behauptung halten sollte. Und sie war der Schlüssel für das, was folgte; denn nun konstruierte Leskov den Fall erinnerter sinnlicher Eindrücke in Analogie zum Fall der Gefühle. Der Wortschatz für die Schattierungen in Geruch und Geschmack wurde zum Problem, und manches verstand Perlmann nur der Spur nach.
    Konnte man eine ganze Welt vergangener Sinneseindrücke im Zuge eines neuen erzählerischen Erinnerns umdichten? Er bezweifelte es. Was er beim Anblick der neuen Patientin im Bett der Mutter empfunden hatte, das würde vielleicht wirklich anders erscheinen, auch der Erlebnisqualität nach, wenn das erzählerische Erinnern eines Tages einen anderen Weg nahm – wenn es, wie Leskov schrieb, einerseits größere Schleifen beschrieb und andererseits dichter wurde. Und ähnliches mochte für das innere Drama gelten, das sich an jenem Abend abspielte, als der Vater ihm wegen der abgebrochenen Ausbildung am Konservatorium Undankbarkeit vorwarf. Es ist mein Leben, ganz allein meins, hatte er ihm mit bebender Stimme geantwortet, bevor er in die Nacht hinausging. Er mochte nicht ausschlieβen, daß unterschiedliche Geschichten dem erinnerten Erleben jenes Augenblicks verschiedene Färbungen zu geben vermochten. Wenn man etwa die heutige Einsicht hinzunahm, daß sein Leben trotz der rührenden Heroik jenes Satzes weiterhin unter dem Diktat der elterlichen Erwartungen geblieben war, so fühlte sich die damalige Wut noch ganz anders an als in einer Geschichte, die von einer geglückten Befreiung berichten könnte.
    Soweit konnte man Leskov also folgen. Aber die Farbe von Vaters Strickjacke, und das Poltern auf dem Sarg? War da etwas umzudichten? In einem eigenen Abschnitt zog Leskov, ohne Quellenangabe, Marcel Proust heran. Aber Perlmann fand das wenig hilfreich, eher peinlich, denn es klang nicht danach, als kenne Leskov Proust aus erster Hand.
    Er machte Licht. Noch neun Seiten. Zum Schluß, schrieb Leskov, wolle er nun der Frage nachgehen, was seine bisherigen Schlußfolgerungen für die Idee des osvaivat’ der eigenen Vergangenheit bedeuteten. Ausgerechnet die Seite, auf der osvaivat’ hätte stehen müssen, fehlte im Wörterbuch. Wütend stellte Perlmann fest, daß es gleich drei Seiten waren, die fehlten. Er blätterte ans Ende und warf einen Blick auf die letzten Sätze des Texts. Und so hoffe er denn gezeigt zu haben, schloß Leskov, daß die Fähigkeit zu erzählen und die Fähigkeit, sich eine eigene, ganz individuelle Vergangenheit zu schaffen, letztlich ein und dieselbe Fähigkeit seien. Auf diese Weise seien Sprache und erlebte Zeit sehr viel enger miteinander verknüpft, als man zunächst vermuten würde. Niemand – das war der letzte, etwas bombastische Satz – habe das Wesen der Sprache verstanden, solange er sie nicht als das Medium sehe, welches vor allem anderen eine differenzierte Erfahrung von Zeit ermögliche.
    Perlmann machte sich auf den Weg zur Trattoria. Wenn er sich nach einer Pause an diese letzten Seiten setzte, würde er am Ende auch wissen, was osvaivat’ heißen mußte.
     
    Sandra war nicht da. So ein Kind müsse doch auch etwas vom Leben haben, meinte die Mutter, und deshalb habe sie sie gehen lassen, als die Freundinnen vorbeigekommen seien. Die Klausur-Gott, ja. «Che sarà, sarà!»
    Perlmann stützte den Ellbogen auf die Chronik und rauchte. Er sah sich im Schatten des Hotelgartens auf dem Bauch liegen, das Lateinbuch vor der Nase. Ferien am Mittelmeer, die ersten, die sich die Eltern dank einer kleinen Erbschaft aus der Schweiz hatten leisten können; damals, sieben Jahre nach Kriegsende,

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