Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Bett eine Zigarette rauchte. Wie paßte die Sache mit der Aneignung zu der These, daß Erinnern in gewissem Sinne Erfinden war? Aneignen-das setzte doch einen gegebenen Innenraum von erinnertem Erleben voraus, den es sozusagen auszuschreiten und zu erobern galt. Aber einen solchen vorgegebenen Innenraum konnte es doch, strenggenommen, gar nicht geben, wenn das vergangene Erleben, und zwar sogar in seiner Gefühlsqualität, durch das Erzählen erst geschaffen wurde. Oder?
Die Müdigkeit übermannte ihn, und er vergrub den Kopf im Kissen. Auf dem Schreibtisch lag Ruges Text, von dem er kein einziges Wort gelesen hatte. Und irgendwann in den nächsten Tagen mußte er sich bei Millar melden, der über seine törichte Frage mit ihm reden wollte. Für einen Moment stützte er sich auf die Ellbogen und machte einen krampfhaften Versuch, sich zu erinnern. Aber die Frage war ihm entglitten, und er ließ sich wieder aufs Kissen fallen.
In Santa Margherita, diesem Kaff, würde er die Platte mit Bachs weniger bekannten Präludien kaum bekommen. Sollte er es dann erst in Rapallo versuchen oder gleich nach Genua fahren? Und wie sollte er das Geschäft mit dem größten Sortiment finden? Wußten Taxifahrer so etwas?
Da hatte er sich mit Sandra solche Mühe gegeben, und nun sah sie, vor seinem Tisch stehend, hochnäsig auf ihn herab. Und warum waren die Blätter der Chronik mit einemmal verklebt? Zwei drohende Schatten verdunkelten alles, und als er aufsah, standen Millar und Ruge vor ihm. Ruge war nach vorne gebeugt und hielt mit Kinn und Händen einen Turm aus Papier fest, der jeden Moment in der Mitte einknicken und auseinanderbrechen konnte. Millars blitzende Brille kam immer näher an die Chronik heran, das Wort sneering schoß Perlmann durch den Kopf, und mitten in dem verzweifelten Versuch, die Chronik vor Millars Nase zuzuklappen, wachte er auf und hörte das Rauschen des Regens.
10
Wie er da in seinem ewig gleichen braunen Anzug mit den zu kurzen Ärmeln vorne auf dem pompösen Sessel saß, sah Achim Ruge aus wie einer aus dem Plebs, der den Kaiserthron usurpiert hatte. Er hatte – das fiel heute mehr auf als sonst – ein Problem mit dem Wechsel von Nahsicht zu Fernsicht und stellte andauernd die Brille schräg, so daß man befürchten mußte, er würde sich mit dem Drahtende, das wie ein Dorn nach innen abstand, verletzen. Trotz der abenteuerlichen Aussprache war sein Englisch von verblüffender Leichtigkeit, und auch heute wieder überraschte er Perlmann mit seinem reichen Wortschatz, der beispielsweise Millars mündliche Ausdrucksweise geradezu ärmlich erscheinen ließ. Damals in Harvard hatten sie ihn zunächst belächelt. Der bäurische Junge vom Lande, aus Germany. Dann lieferte er, so erzählte man sich, seine erste Arbeit über Grammatiktheorie ab, angeblich war sie hundert Seiten lang. Sie schlug wie eine Bombe ein, und Ruge wurde über Nacht zum Star. Er blieb drei Jahre. Als sie ihm dann ein verlockendes Stellenangebot machten, sagte er-so ging die Geschichte weiter-, der American way of life sei nichts für ihn, er wolle lieber zurück auf den Bauernhof. Dabei war er in Böblingen als Sohn eines Steuerbeamten aufgewachsen.
Sein Text begann mit dem Hinweis auf Experimente von Perlmann, die vor bald zehn Jahren Aufsehen erregt hatten, weil sie eine gängige Theorie über den sprachlichen Lernprozeß widerlegten. Erschrocken hatte Perlmann das bemerkt, als er den Text, auf dem Bettrand sitzend, mit schwerem Kopf hastig durchblätterte. Auf dem Weg hinunter zur Veranda hatte er vergeblich versucht, sich die Einzelheiten von damals in Erinnerung zu rufen. Es war alles so fern. Erst durch die Zusammenfassung, die Ruge jetzt noch einmal gab, kamen die Konturen zurück. Aber es waren Konturen von etwas, was einer herausgefunden und damals offenbar auch mit Verve vorgetragen hatte, der nur zufällig mit ihm, Philipp Perlmann, identisch war. Trotzdem: Jene Experimente hatten seine Position im Fach für Jahre gefestigt, und es hatte lange gedauert, bis die anderen schließlich wahrgenommen hatten, daß er ganz zum theoretischen Linguisten geworden war. Daß das so gekommen war, weil er Labors nicht mochte und sich nach einem Tag Teamwork ausgelaugt fühlte, konnten sie nicht wissen.
Das Schlimme für Evelyn Mistrals Vater waren die anderen Ärzte und die Schwestern gewesen, die beim Operieren um ihn herum standen. Ja, genau, dachte Perlmann jetzt, ganz genau.
Es war schon sonderbar, geradezu eine Ironie,
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