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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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draufkam. Dann holte er am Ende des Korridors die Leiter und stellte in den Deckenlampen des Flurs die schummrige Beleuchtung wieder her. Jetzt war es gut. Jetzt konnte er arbeiten.
    Die Sache mit der Aneignung war auch um vier Uhr früh noch unklar. Einmal brauchte Leskov podtverzdat’ und dreimal vkljucat’. Also war auch der Gedanke im Spiel, daß man sich ein Stück Vergangenheit aneignete, indem man es zum Teil eines Ganzen machte, das man selbst war. Man holte es, wenn es vorher fremd gewesen war, sozusagen in diese Einheit hinein.
    Einmal abgesehen davon, daß natürlich die Idee der Ganzheit oder Einheit erläuterungsbedürftig war: Wie konnte dieser Integrationsprozeß aussehen, wenn gelten sollte, daß das Erzählen die Erinnerungen erst schuf? Ging es darum, daß die verschiedenen Erzählungen sozusagen immer mehr zusammenwuchsen? Sich etwas zu eigen machen – da dachte man zunächst an ein Stück Substanz, einen festen Kern, der um das Neue, das bisher draußen geblieben war, erweitert wurde. Aber einen solchen festen Kern, eine Konstante, die in aller erzählerischen Aneignung vorausgesetzt wäre, konnte es für Leskov nicht geben, denn was für das eine Stück Erinnerung galt, galt für alle. War er bereit zu der Behauptung, daß ein Selbst, eine Person im psychologischen Sinne des Worts, gar keinen festen Kern besaß und überhaupt nichts von einer Substanz an sich hatte, sondern ein dauernd sich erweiterndes und einer fortwährenden Umschichtung unterworfenes Gespinst von Geschichten war – ein bißchen wie ein Gebilde aus Zuckerwatte auf dem Jahrmarkt, nur ohne Materie? Perlmann wurde schwindlig bei dem Gedanken, und aufgeregt nahm er den nächsten Absatz in Angriff.
    Es war halb sechs, als ihn die Müdigkeit überfiel. Sieben der neun letzten Seiten des Texts waren übersetzt. Es war lange her, daß er auf etwas so stolz gewesen war. Und es war, dachte er, seit sehr langer Zeit das erste Mal, daß es ihm gelungen war, sich in etwas so sehr zu vertiefen.
    Seit Agnes’ Tod. Er holte ihr Bild aus der Brieftasche. Sie saß zurückgelehnt in einem Liegestuhl am Strand, die Arme über dem Kopf verschränkt, die Sonnenbrille ins kastanienbraune Haar geschoben. Ihr wasserheller Blick, der ihm so oft Mut gemacht hatte, war auf ihn gerichtet, und es war ihr noch anzusehen, daß sie gerade eben über seinen Wunsch gespottet hatte, ein Farbfoto von ihr zu haben.
    In jenem Urlaub hatten sie die kyrillische Schrift und die ersten russischen Wörter gelernt. Sie war schneller gewesen als er, sie hatte es spielerisch gemacht, während er wie üblich methodisch, beinahe pedantisch vorgegangen war. Als sie schon ganze Wörter nach ihrer Gestalt erfaßte, mußte er sich noch jeden einzelnen Buchstaben überlegen.
    Perlmann löschte das Licht. Sie war die Strecke Hunderte von Malen gefahren, zügig und sicher. Bis zu jenem klirrend kalten Morgen. Sie hatte das Fenster nur einen Spaltbreit heruntergekurbelt, und die winkende Hand im schwarzen Handschuh hatte dadurch puppenhaft und mechanisch gewirkt. Beide hatten sie darüber gelacht, und noch mitten in diesem Lachen war sie in ihrem uralten Austin davongeflitzt, ein Kavaliersstart in der freigeschaufelten Einfahrt. Bis zur Waldschneise war sie keine zehn Minuten gefahren. Ein Film von Pulverschnee über tückischem Glatteis, ein Moment der Unachtsamkeit. Die Fotoausrüstung auf dem Rücksitz war unbeschädigt geblieben.

11
     
    Drei Stunden später, in der Veranda, hatte Perlmann Mühe, die Augen offenzuhalten und goß eine Tasse Kaffee nach der anderen in sich hinein. Silvestri grinste, wenn er ihn schon wieder zur Kanne greifen sah, und rieb sich zum Zeichen des Verständnisses die Augen. Ruge erläuterte jetzt denjenigen Teil seines Texts, der mit Perlmanns Experimenten nichts zu tun hatte. Er trug einen ausgeleierten Rollkragenpullover, der in unordentlichen Falten über dem Kragen des Jacketts lag und seinen Hals noch kürzer erscheinen ließ als sonst. Perlmann schrieb es zunächst seinem eigenen müden Kopf zu, in dem es immer wieder kleine Absencen gab, doch dann merkte er, daß Ruge heute morgen tatsächlich unkonzentriert war. Sein Vortrag war stockend und zerfahren, und seinen Augen fehlte der gewohnte angriffslustige und schalkhafte Glanz. Immer häufiger fuhr er sich mit der Hand über den kahlen Schädel und blätterte so zögerlich um, als verstünde er kein Wort von dem, was da stand. Und wenn er dann noch die Brille schräg stellte, sah er mit

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