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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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wieder erlebt. Er hatte die Zeitung schließlich liegenlassen, und die schrecklichen Bilder der Kinder waren von dem lauten, wunderbaren Bahnhofstrubel weggespült worden.
    Die Tauben hatten sie zusammengeführt, die Tauben auf dem Markusplatz. Als er dastand, die Hände in den Taschen, und zusah, wie sie auf Kopf und Schultern der Touristen landeten, hatte auch er sich plötzlich mitten in einer Wolke aus flatternden Tieren befunden, deren Flügel sein Gesicht entlangwischten und ihm um ein Haar die Brille herunterrissen. Es war ihm wie ein Überfall vorgekommen, und er hatte aufgeregt um sich geschlagen. Agnes mit der großen Kamera vor dem Gesicht hatte er erst bemerkt, als die Tauben von ihm abließen. Der Apparat klickte noch ein paarmal, und dann sah er zum erstenmal ihren hellen, wäßrig leuchtenden Blick und ihr spöttisches Lächeln, das weicher und leichter war als dasjenige von Laura Sand, weil es keinen Hintergrund aus Zorn gab.
    Sie war in ihren hellen Hosen und den Sandaletten auf ihn zugekommen.«Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse», hatte sie gesagt, und wie zahllose Male danach hatte ihn das Dunkle in der Stimme überrascht, das so gar nicht zu den transparenten Augen paßte.«Aber es sah einfach zu komisch aus, wie Sie sich da wehrten. Wie gegen einen Hagelsturm oder Taifun. Es steckt eine Geschichte in der Szene. So etwas muß ich festhalten. Das ist wie eine Sucht. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen ein paar Abzüge. »
    Bevor er hatte antworten können, hatte sie laut aufgelacht und auf sein Haar gedeutet.«Nein, nicht hinfassen! Es ist voller Taubendreck. »
    Als sie erfuhr, daß sein Hotel am anderen Ende der Stadt lag, zog sie ihn mit sich zu dem kleinen Albergo um die Ecke, wo sie wohnte. Er mußte sich auf einen Schemel knien, und dann wusch sie ihm in dem fleckigen Waschbecken, das mehrere Sprünge hatte, das Haar aus. Ihre sanfte, praktische Art brach jeden Widerstand. Sie könne nicht erklären, warum sie ihn auf deutsch angesprochen habe, sagte sie beim Frottieren; irgendwie habe er auf sie einfach so gewirkt.
    Wieder auf der Straße, hatte sie sich bald von ihm verabschiedet. Eine Verabredung mit einem Kollegen von der Zeitung. Er hatte ihr noch seine Adresse auf einen Zettel gekritzelt, und dann war sie in der nächsten Gasse verschwunden. Es war alles gewesen wie ein Spuk. Er war froh, daß er seinen frisch erworbenen Doktortitel nicht mit auf den Zettel geschrieben hatte. Im übrigen hatte er keine Ahnung, was er empfand, als er nachher in einem Cafe auf dem Markusplatz saß und bei Musik sein weniges Geld für überteuerte Getränke ausgab, so daß es am Ende nicht einmal mehr für ein Abendessen reichte. Oder doch, eines wußte er: Es gefiel ihm, wie die Episode mit dieser Frau aufgeblitzt war und sich ohne Vorgeschichte und ohne Fortsetzung in seine gegenwartsarme Zeit hineingeschnitten hatte.
    Sein Zug nach Hause ging am nächsten Tag zur Mittagszeit, und da es nur drei Tage gewesen waren, verließ er das Hotel in aller Frühe, um noch mehr von den kleinen, unspektakulären Kanälen und Brükken zu sehen. Und da trafen sie sich zum zweitenmal. Agnes war ganz anders als am Tag zuvor, viel verschlossener, und am Anfang hatte er das Gefühl, nur zu stören. Doch dann hatte sie, immer wieder durch den Sucher der Kamera blickend, angefangen, von Licht und Schatten zu reden und vom Zauber der Schwarzweißfotografie. Er war sich vorgekommen wie ein Blinder, der sehen lernt. Nachher beim Kaffee, den er mit dem Geld bezahlte, das für das Sandwich im Zug reserviert gewesen war, wollte sie nun etwas über ihn wissen. Sprachwissenschaftler, sagte er, und früher habe er Klavier gespielt. Chopin.«Jaa», hatte sie nickend und mit halbgeschlossenen Augen gesagt. Und dann noch einmal:«Jaa. »
    Über dieses«Jaa»hatte er auf der langen Fahrt immer wieder nachgedacht. Hatte es Zustimmung bedeutet? Zustimmung zu ihm? Oder hatte sie durch seine Auskunft nur ihren ersten Eindruck bestätigt gefunden, der ja auch negativ sein konnte? Er hatte Agnes in all den Jahren nie danach gefragt, er hätte nicht zu sagen gewußt, warum. Das geheimnisvolle«Jaa»hatte ihn auch davon abgehalten, die Sache mit den Contergan-Kindern zur Sprache zu bringen, die ihn in jenen Tagen, wenn der Augenblick vollkommen zu sein schien, ab und zu unvermittelt angesprungen hatten.
    Wer von den Mitreisenden war es gewesen, der ihm damals L’Espresso ausgeliehen hatte? Perlmann erkannte Pier Paolo Pasolinis Text, den die

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