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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ein Student, ein hagerer Junge mit vorstehendem Adamsapfel und abstehenden Ohren, der die selbstgedrehte Zigarette auffällig weit von sich weg hielt, als ekle er sich davor. Er hatte in dem unübersichtlichen Gebäude die Orientierung verloren und wollte eigentlich nur ein Vorlesungsverzeichnis. Perlmann bat ihn herein und fragte ihn über eine halbe Stunde aus, der Junge wußte nicht, wie ihm geschah. Er fragte ihn sogar nach seinen Urlaubsplänen und seiner finanziellen Situation, und die Frage nach einer Freundin unterdrückte er erst im letzten Moment. Nachher erschrak er über seine Distanzlosigkeit. Ein paar Tage später war ihm der Junge mit seiner Freundin auf der anderen Straßenseite entgegengekommen. Perlmann war zusammengezuckt, als er sah, wie die beiden tuschelten und lachten, und hatte sich wegen drohenden Verfolgungswahns ermahnen müssen. Die Freundin war sehr hübsch, und an ihrer Seite hatte der Junge überhaupt nicht mehr verschüchtert und hilflos gewirkt. Auch die Ohren schienen weniger abzustehen. Perlmann erinnerte sich jetzt wieder genau, was er gedacht hatte: Ich verliere das Urteilsvermögen. Wenn ich denn jemals eines besessen habe.
    Er duschte lange, um die Erinnerung wegzuschwemmen, und begann dann mit Leskovs Text ganz von vorn. Jetzt, im zweiten Durchgang, verstand er alles viel besser, und die ersten Absätze standen erstaunlich schnell. Das neue Wörterbuch war wirklich fabelhaft, nur das gräuliche Papier mit seiner seifigen Glätte blieb unangenehm anzufassen, so daß er hin und wieder das Bedürfnis hatte, die Hände zu waschen. Der programmatische Satz am Anfang des Texts war auf englisch kein Problem, und erst bei den Beispielen für den Begriff einer erinnerten Szene geriet er ins Stocken. Die Konzentration ließ nach, und jetzt meldete sich auch der flaue Magen. Sandra. Die Klausur. Kurz vor acht schlich er sich durch den Hinterausgang aus dem Hotel und machte sich auf den Weg zur Trattoria.
    Wo er denn gestern gewesen sei, fragte die Wirtin scherzend, und dann rief sie nach Sandra, die mit hüpfendem Zopf heruntergelaufen kam und ihm das offene Heft auf den Teller legte. Es war immer noch viel Rot auf den Seiten, aber es hatte zu einer genügenden Note gereicht, der ersten seit Wochen. Den Rest der Woche könne er umsonst essen, sagte der Wirt und schlug ihm mit seiner schweren Hand auf die Schulter. Und er solle sich ruhig das Teuerste aussuchen!
    Perlmann schlug in der Chronik das Attentat auf Robert Kennedy nach. Richtig, nur wenige Wochen davor, während er sich auf die Doktorprüfung vorbereitet hatte, war auch auf Martin Luther King und Rudi Dutschke geschossen worden. Der Prager Frühling. Die Studentenunruhen in Paris. Von Woche zu Woche, beinahe schon von Tag zu Tag, war ihm damals die Spannung zwischen seinen persönlichen Sorgen, die der Prüfung und der offenen Assistentenstelle galten, und den politischen Entwicklungen draußen in der Welt immer deutlicher zu Bewußtsein gekommen. Was war wichtiger? Was hieß da wichtig? Und in welchem Sinne konnte man von der Verpflichtung sprechen, an den politischen Entwicklungen Anteil zu nehmen? War es klar, was Anteil nehmen hieß? Für einige Zeit hatte er seine Gewohnheiten geändert und morgens, bevor er an den Schreibtisch ging, Zeitung gelesen. Aber es war gegen sein Empfinden, und so war er, ohne auf seine Fragen eine Antwort gefunden zu haben, wieder zu dem alten, umgekehrten Rhythmus zurückgekehrt.
    Es war im Zug nach Venedig gewesen, daß er damals in der Zeitung vom Attentat auf Robert Kennedy gelesen hatte. Perlmann stützte den Kopf in die verschränkten Hände und dachte an den Moment zurück, in dem der Zug in Mestre auf den Damm nach Venedig hinüber eingebogen war. Er hatte den Kopf in den warmen Abend hinausgestreckt und sich immer wieder das Zauberwort vorgesagt: Venedig. Der Moment war auch jetzt noch so lebendig, daß er all die anderen Köpfe und ausgestreckten Arme entlang dem Zug vor sich zu sehen meinte. Und dann, bei der Einfahrt in den Bahnhof, hatte seine offene Zeitung mit dem Bericht über den Contergan-Prozeß auf dem Sitz gelegen. Die Reisetasche schon in der Hand, hatte er noch einmal auf die Bilder verkrüppelter Kinder geblickt. Eine schmerzhafte Wachheit war in ihn gefahren, als er in seiner vielsagenden Unschlüssigkeit als letzter im Abteil stand. Den damaligen Konflikt zwischen dem eigenen Glück und der Anteilnahme an fremdem Leid hatte er seither in zahllosen Variationen immer

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