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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Erinnerungen auf Abstand hielt... Gesetzt, im Text war auch usvaivat’ zu finden: Konnte man etwas, das einem, wie die eigene Vergangenheit, bereits gehörte, erwerben? Gut, Leskov könnte sagen, daß es einem vor dem erzählenden Erinnern eben noch nicht wirklich gehörte... Und wie war es mit adopting? Perlmann lief durch die Assoziationskorridore, die für ihn von dem englischen Wort ausgingen. Man konnte es, dachte er, auch verwenden, wenn es darum ging, ein Stück Kultur oder eine Religion zu übernehmen. Das hieß, daß eine gewisse innere Distanz im Spiel war, wie wenn man eine Rolle spielte. Und war nicht auch ein Hauch von Fälschung und Schwindel dabei? Dann wäre adopting als Übersetzung für usvaivat’ im Sinne von Aneignung nicht möglich. Oder gerade? Denn wenn das erzählerische Erinnern eine Art Erfindung war...
    In Genova Nervi stiegen viele Leute ein, und es wurde laut im Wagen. Perlmann konnte sich nur noch mühsam konzentrieren. Sich die Vergangenheit aneignen: Hieß das nicht auch, zu ihr stehen? Was war das auf englisch? Eine Weile verlor er den Faden und glitt in eine Erschöpfung, wie sie auch einzutreten pflegte, wenn er zu lange mit den Wörterbüchern am Boden saß. Am Bahnhof von Recco dann fiel es ihm ein: endorsing. Unter den neugierigen Blikken der gegenübersitzenden Leute schlug er nach, das große Lexikon auf den Knien balancierend. Indossirovat’. Aber das schien ein Wort zu sein, das nur in einem finanziellen Zusammenhang vorkam. Podtverdat’ im Sinne von confirming. Kam das Wort bei Leskov vor? Er sah am Blick der anderen vorbei zum Fenster hinaus in die Dämmerung. Sich etwas einverleiben, so schien ihm, war auch eine Facette im Begriff der Aneignung. Doch jetzt hielt der Zug in Santa Margherita.
    «Einen Moment noch», sagte er nachher zum Taxifahrer, legte die Wörterbücher auf den Kofferraumdeckel und schlug incorporating nach. Vkljucat’. Es war ihm, als habe er das gelesen.«Es eilt», sagte er zu dem verblüfften Fahrer.
     
    In seinem Zimmer setzte er sich sofort an den Schreibtisch. Er war froh, daß er nicht, wie im ersten Zimmer, die Bücher aufgebaut hatte. Auf diese Weise konnte er die Sachen fürs Übersetzen bequem ausbreiten. Vor allem war so Platz genug für das russisch-englische Lexikon, das, wenn es aufgeschlagen war, fast die Hälfte der Platte einnahm. Das andere Wörterbuch, das auch die Frau mit den riesigen Ohrringen gekauft hatte, schob er in die rechte hintere Ecke. Ohrringe dieser Größe hatte er noch nie gesehen. Das Smaragdgrün mit dem feinen goldenen Rand hatte ihm gefallen.
    Er begann dort, wo Leskov auf die Idee der Aneignung zu sprechen kam. Für osvaivat’ schrieb er beides hin, assimilate und master, dazwischen setzte er einen Schrägstrich. Es ging viel langsamer als beim lesenden Übersetzen ins Deutsche. Dafür war es sehr viel aufregender, und wenn ihm der englische Satz mühelos gelang, atmete er schwer vor Freude. Oft allerdings konnte von Leichtigkeit keine Rede sein. Lesendes Verstehen war auch dann möglich, wenn es unscharfe Bedeutungsränder gab. Man brachte dann, ohne es recht zu merken, das vielfältige Wissen zum Klingen, das ein jedes Wort der eigenen Sprache begleitete, und dieses Wissen erlaubte einem, die Verständnislücken zu schließen, an denen die mangelnde Vertrautheit mit den fremden Wörtern sichtbar wurde. Das Übersetzen von der einen Fremdsprache in die andere machte dagegen auch noch die kleinste Unsicherheit im sprachlichen Empfinden gnadenlos sichtbar. Das galt natürlich vor allem fürs Russische. Aber Perlmann bekam schnell auch ein Gefühl dafür, wie groß seine Unsicherheit bei manchem englischen Ausdruck war, und es gab Sätze, da verschwammen beide Seiten, es war dann wie bei einer Gleichung mit zwei Unbekannten. An solchen Stellen wurde ihm bewußt, über wie viele Dinge er bisher hinweggelesen hatte.
    Und trotzdem war es von Anfang an wie ein Fieber, das am liebsten überhaupt nicht mehr aufhören sollte. Er hatte fast zwei Blätter vollgeschrieben, da kam priznavat’. Er wollte gerade nachschlagen, ob es noch eine andere Übersetzung als to acknowledge gab, als ihm das Abendessen einfiel. Verärgert schlüpfte er in die Jacke und eilte die Treppe hinunter. Der Kellner räumte bereits die Suppenteller ab, als er sich Millar gegenüber an den Tisch setzte.
    Jetzt erst, beim Anblick von Millars Gesicht, fiel Perlmann die Platte wieder ein. Er faßte in die Jackentasche und befühlte das kühle

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