Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
seinem spärlichen grauen Haarkranz aus wie ein erblindender Greis. Die Lustlosigkeit, die von ihm ausging, sprang auch auf die anderen über, nicht einmal Millar schaltete sich ein, wenn die Pausen sich dehnten, und für eine Weile schien die Sitzung gänzlich zu mißlingen.
Es war Evelyn Mistral, die das schließlich verhinderte. Sie stellte eine kritische Frage, und als sie die anderen erleichtert nicken sah, fuhr sie, auch von Ruges Aufmerksamkeit ermutigt, zu reden fort und entwickelte, immer befreiter sprechend, einen langen Gedankengang, der die anderen nach einer Weile zum Stift greifen ließ. Der rötliche Streifen erschien auf ihrer Stirn, und ihre erläuternden Handbewegungen waren so lebhaft und ausdrucksvoll, wie Perlmann sie noch nie gesehen hatte. Die Nervosität, mit der sie in diesem Raum bisher zu kämpfen gehabt hatte, fiel von ihr ab, und nur ab und zu noch schlüpfte sie mit der Ferse aus dem rechten Schuh. Später, als sie zum Mittelpunkt einer lebhaften Diskussion wurde, warf sie, während sich die Antworten und Einwürfe in ihr formten, öfter den Kopf nach links, um das Gesicht von dem Haar zu befreien, das sie heute offen trug. Doch statt daß das Haar nach hinten schwang, blieb es wie ein unordentlicher Schleier vor dem Gesicht hängen, so daß, wenn sie von ihren Notizen aufsah, nur noch die Hälfte der Brille zu sehen war. Dann blies sie aus dem linken Mundwinkel nach oben, und da das meist nicht genügte, strich sie die blonden, strohigen Strähnen schließlich mit der Hand aus dem Gesicht.
Als von dem Kaffee eine zittrige Wachheit in ihm entstanden war, suchte Perlmann fieberhaft nach einer Möglichkeit, etwas zu der Diskussion beizutragen. Aber er kam immer zu spät mit seinen Gedanken, und die beiden Zusammenfassungen, die er zwischendurch versuchte, blieben so folgenlos, daß er sich wie ein Zaungast zu fühlen begann. Beide Male redete Millar, ohne sich auch nur zu ihm umzudrehen, einfach weiter, als sei da nur ein störendes Geräusch gewesen, das er über sich hatte ergehen lassen müssen.
Es hatte aufgehört zu regnen, aber über der Bucht hingen immer noch dunkle Wolken, und von den weißen Tischen auf der Terrasse tropfte es in den Kies. Der junge Mann mit dem Rucksack und der Pelerine, der jetzt in Perlmanns Blickfeld trat, hatte einen zögernden Schritt und sah sich um wie einer, der befürchtet, bei etwas Verbotenem ertappt zu werden. Er blickte zur Fassade hinauf, machte ein paar Schritte in Richtung Schwimmbecken, und als er sah, daß in der Veranda Leute saßen, ging er eilig zurück zur Freitreppe. Das Hagere seiner Gestalt und die Art, wie er die Zigarette gehalten hatte, erinnerten Perlmann an etwas Unangenehmes, irgendeine Begebenheit in den Semesterferien, aber kurz bevor er es zu fassen bekam, verschwand es wieder in der Müdigkeit.
Eigentlich wahr, sagte Millar gerade, das sei doch die ideale Gelegenheit, um einmal in Ruhe die verschiedenen Grammatiktheorien der letzten Jahre Revue passieren zu lassen und eine Bilanzierung zu versuchen. Achim und er selbst könnten das morgen vorbereiten, und dann könnten sie die Dinge am Donnerstag und Freitag zusammen durchgehen. Ob es Adrian etwas ausmache, wenn seine Sitzung erst zu Beginn der nächsten Woche stattfinde?
Dann verschiebt sich alles um eine halbe Woche. Das bedeutet, da ß ich auf keinen Fall schon in der vierten Woche drankomme. Also bleiben mir fünfzehn Tage, vorausgesetzt, Donnerstag und Freitag reichen für das Abschreiben. Er finde es eine gute Idee, sagte Perlmann, als ihn die anderen fragend ansahen.
«Und ob das eine gute Idee ist! »sagte Evelyn Mistral zu ihm, als sie die Veranda als letzte verließen.«Dadurch gewinne ich eine halbe Woche! Sollen wir das in der Stadt mit einer Pizza feiern? Trotz des Regens?»
Er wolle sich lieber etwas ausruhen, sagte er, er habe schlecht geschlafen.
«Ja, man sieht es dir an», sagte sie und berührte ihn leicht am Arm.
Als er kurz vor vier aufwachte, wußte er plötzlich, woran ihn der hagere Junge in der Pelerine erinnert hatte. Zum drittenmal schon hatte Frau Hartwig gemahnt, jenen Brief wegen der Zusammenarbeit mit einem israelischen Kollegen zu beantworten, und so war er kurz vor ihrem Dienstschluß ins Büro gegangen und hatte die Absage diktiert. Nachher hatte er die übrige Post durchgesehen, und weil er gerade einen Bücherkatalog mit Schwung in den Papierkorb beförderte, hatte er das zögernde, schuldbewußte Klopfen fast überhört.
Es war
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