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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Chronik hier abdruckte, sofort wieder, es war der Text, den die Zeitschrift an jenem Tag seiner Heimreise gebracht hatte: Als ihr euch gestern in Valle Giulia mit den Polizisten schlugt/sympathisierte ich mit den Polizisten.lWeil die Polizisten Söhne der Armen sind, sie kommen aus Löchern, ländlichen oder städtischen. Und dann klagte er die Studenten an: Ihr habt Gesichter von Papasöhnchenl .. ./Ihr seid furchtsam, unsicher, verzweifelt . Der Text hatte ihn lange danach noch beschäftigt, denn es war ja, fand er, etwas dran, und gleichzeitig schien es ihm ein Loyalitätsbruch, so etwas zu denken. Die zahllosen Teach-ins der kommenden Jahre hatte er gemieden und war statt dessen im stillen Lesesaal der Bibliothek der Frage nachgegangen, wie sich die andalusischen Bauern damals während des Bürgerkriegs die Idee von Freiheit und Selbstbestimmung zurechtgelegt hatten.
    Agnes’ Fotos waren erst gekommen, als Venedig schon verblaßt war und ihn die Aufregung wegen der Assistentenstelle in Atem hielt. Noch nie zuvor hatte er derart lebendige Bilder von sich gesehen. Und noch nie so witzige. Das eine, auf dem ein Mädchen mit asiatischen Gesichtszügen seinen Kopf schräg ins Bild hielt, hatte sogar etwas von Slapstick. Und was unglaublich war: Der Markusplatz war auf diesen Schwarzweißbildern in ein Licht getaucht, so leuchtend, wie er es in Farbe noch nie gesehen hatte.
    Und doch war er auch bis ins Innerste erschrocken: Die Panik, die durch die Berührung der Tauben in seine Augen getreten war, verriet eine abgrundtiefe Angst vor dem Leben. Es steckt eine Geschichte in der Szene, hatte sie gesagt. Er hoffte, daß die Kamera übertrieb. Oder daß Agnes nicht das sah, was er sah. Beides war unwahrscheinlich. Es vergingen Wochen. Schließlich war sie es, die anrief.
    Die Chronik war schon ein erstaunliches Potpourri, dachte Perlmann. Zwischen einer Analyse der Art und Weise, wie die italienische Presse auf die Studentenrevolte reagierte, und dem Bericht über den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag kam ein Klatschartikel über Sophia Lorens neueste Liebschaft, der nur unwesentlich kürzer war. Das Foto der Diva war sogar etwas größer als das Bild der Panzer auf dem Wenzelsplatz. Er hätte gerne weitergelesen, aber er war der letzte im Lokal, und der Wirt gähnte beim Abräumen. Und morgen wollte er ja mit Leskovs Text ein gutes Stück weiterkommen.
    Inzwischen war es eine vertraute Erfahrung, über die menschenleere Piazza Veneto zum Hotel zu gehen. Er fragte sich, ob Leskov die Sache mit dem Selbstbild wirklich richtig beschrieb. In seinen Beispielen, das fiel ihm jetzt auf, ging es immer darum, daß einer eine Entscheidung traf oder jedenfalls eine pointierte Handlung vollzog, der ein längerer Prozeß des Überlegens vorangegangen war: Es wurde ein politischer Aufruf unterzeichnet; der Militärarzt wurde hinters Licht geführt; gegen den Willen der Eltern wurde eine Ehe geschlossen. Daß es in solchen Fällen ein erinnertes Selbst gab, das komplizierte, nur sprachlich artikulierbare Konturen besaß, war klar. Wie aber war es, wenn er sich an die Tauben erinnerte, die ihn bedrängt hatten? Agnes mochte recht gehabt haben, daß es dazu eine Geschichte über ihn zu erzählen gab. Aber er, der Erinnernde, kannte sie nicht, auch heute noch nicht. Da waren, so schien es, nur Panik und Schweiß und flatternde Federn gewesen. Und wenn er ein Selbstbild in jenen hektischen Wirrwarr hineinlas, dann bestand dieses Bild nur aus Empfindungskonturen und sonst nichts. Alles andere blieb undurchdringlich; das gehörte zur besonderen Natur jener Panik, und auch zu ihrer Macht.
    Ein ruhigeres Beispiel für sein vergangenes Selbst, das sich gegen ein erzählendes Aufschließen sträubte, war der betont korrekt gekleidete junge Mann von damals, der sich über die altjüngferliche Bibliothekarin im Lesesaal ärgerte, weil sie ihn gefragt hatte, warum er nicht auch drüben beim Teach-in sei. Und wie war es mit dem hellwachen Moment, als die freudige Aufregung über Venedig und das Entsetzen über die Contergan-Kinder aufeinandergetroffen waren? Vielleicht, dachte er, wurden diese Dinge bei Leskov deutlicher, wenn er das, was er im ungeduldigen ersten Durchgang überlesen hatte, nun der genauen übersetzerischen Aufmerksamkeit aussetzte.
     
    Es habe vor einer Stunde jemand aus Deutschland angerufen, sagte Giovanni. Soweit er verstanden habe, sei es seine Tochter gewesen.
    Sofort rief Perlmann Kirsten an.
    «Du warst aber

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