Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
lange weg», sagte sie.«Geht ihr mit der Gruppe oft aus?»
Sie war nervös wegen des Referats. Nur noch eine Woche. Zum Verzweifeln sei Faulkners Bemerkung, das Verhältnis der beiden Geschichten zueinander sei dem Kontrapunkt in der Musik verwandt. Die verschiedenen Theorien über die Einheit des Ganzen fände sie von Tag zu Tag unverständlicher. Sie überlege, ob sie, gegen die meisten Interpreten, behaupten solle, es gebe diese Einheit gar nicht. Oder jedenfalls nur in Faulkners Empfinden. Für einen durchgeschriebenen Text reiche die Zeit nicht mehr, sie werde sich mit detaillierten Notizen behelfen müssen.
«Was macht man, wenn man einen Blackout bekommt und plötzlich nichts mehr zu sagen weiß?»
«Du wirst keinen bekommen», sagte Perlmann und hörte, wie enttäuscht sie über seine dämliche Antwort war.
12
Der Mittwoch war ein strahlender Spätherbsttag mit einem Horizont, der sich in verträumten Dunst auflöste. Wenn Perlmann vom Schreibtisch aufstand und auf die Terrasse hinunterblickte, sah er Millar und Ruge, die sich abseits gesetzt hatten und an einem Tisch voller Bücher und Papiere die beiden nächsten Sitzungen vorbereiteten. Einmal trat er gerade in dem Moment ans Fenster, als John Smith sich den beiden mit einer leutseligen Geste näherte. Millars Reaktion war offenbar so unfreundlich, daß er sofort wieder kehrtmachte und zum Schwimmbecken hinübertrottete.
Mit dem Übersetzen ging es gut voran, und Perlmann bekam Übung darin, sich nach dem Blick aus dem Fenster schnell wieder hinter die schützende Wand der Wörterbücher zurückzuziehen. Er hätte sich gewünscht, weniger oft ans Fenster zu treten; aber dagegen war nicht viel zu machen. Wenn er einen Absatz fertig hatte, griff er als Belohnung zum russisch-italienischen Wörterbuch und übertrug einige von Leskovs leichteren Sätzen ins Italienische. Dann stellte er sich vor, in einem runden Zimmer zu sitzen, dessen Wände bis obenhin voller Wörterbücher wären. Er würde an diesen Wänden entlanggehen und immer neue Sätze in immer neue Sprachen übertragen. Es gäbe keinen Grund, diesen Raum jemals zu verlassen, denn hier war der Ort, an dem er endlich zu seinem eigentlichen Willen fand. Hier konnte er nach mehr als drei Jahrzehnten das Mißverständnis rückgängig machen, das er damals im Auditorium maximum wahrgenommen hatte, ohne es zu erkennen und ohne es in seiner Entfaltung aufhalten zu können.
Mittags ging er zu Maria ins Büro und fragte sie nach dem italienischen Wort für self-image. Um ihr zu erklären, daß nicht autori tratto, Selbstbildnis, gemeint war, skizzierte er etwas von Leskovs Gedankengang. Sie war sofort Feuer und Flamme für das Thema und fragte immer weiter, bis er ihr einen Abriß des ganzen Texts gegeben hatte.
«Das also ist es, was drüben in der Veranda besprochen wird!»»sagte sie am Schluß und verschluckte sich am Rauch.«Ich wünschte, ich könnte zuhören! »
Hastig drehte er sich zu ihrem Bildschirm um und fragte ohne Übergang, ob diese Schriftart für die Augen auf Dauer nicht ermüdend sei.
Jetzt kamen in Leskovs Text die vier Sätze, die ihm bisher ein völliges Rätsel geblieben waren. Mit Hilfe des neuen Wörterbuchs waren sie bald übersetzt. Aber es dauerte lange, bis Perlmann sich das knappe und unbeholfen formulierte Argument für die notwendigerweise sprachliche Natur von Selbstbildern zurechtgelegt hatte:
Ein vergangenes Tun als sinnvoll zu sehen heiße, dem vergangenen Selbst Gründe für dieses Tun zuzuschreiben. Gründe aber stünden zueinander in Beziehungen, die es nur zwischen Sätzen geben könne. Daher sei die Ausdifferenzierung des die Erinnerung tragenden Selbstbildes nur durch Sprache möglich.
Es war ein frappierend einfacher Gedanke, und auf den ersten Blick wirkte er schlagend. Aber als sich Perlmann aufs Bett legte um auszuruhen, begannen sich die Zweifel zu häufen. Stimmte es überhaupt, daß man sich selbst im Lichte seiner Gründe betrachtete, wenn man zurückblickte? Und was hatte das innere Gezerre, das-jedenfalls bei ihm – einer wichtigen Handlung voranzugehen pflegte, mit logischen Beziehungen zwischen Sätzen zu tun? Gar nicht zu reden von all den Zweideutigkeiten und Zwiespältigkeiten, die das Gefühlsleben durchzogen und an die man sich manchmal sehr genau erinnerte. Wieder sah er sich im leeren Zugabteil stehen, auf die Contergan-Kinder blicken und dann auf den Bahnsteig treten, hinein in die hallende Lautsprecherstimme und die fremden
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