Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Bänden an den Seiten, war das Ganze stabil, und es blieb genügend Platz zum Schreiben. Den Computer mitzubringen, das kleine Gerät mit dem riesigen Speicher für all die ungeschriebenen Texte, das hatte er nicht fertiggebracht; es wäre ihm als der Gipfel der Verlogenheit vorgekommen. Perlmann legte Bleistifte, ein Lineal und seinen besten Kugelschreiber auf die Glasplatte, dazu einen Stoß weißer Blätter. Morgen früh mußte er unbedingt zu arbeiten beginnen. Ich habe keine Ahnung, was. Aber ich muß anfangen. Um jeden Preis.
Das sagte er sich nun schon seit Monaten. Und doch war es nicht dazu gekommen. Statt dessen hatte er viele Stunden am Tag weiter an seinem Russisch gearbeitet. Das verband ihn mit Agnes. Unterstützt von Musik, die sie beide liebten, hatte er sich in einen inneren Raum zurückgezogen, in dem auch sie am Tisch saß und ihn wie gewohnt abfragte, lachend, wenn sie wieder einmal schneller begriff als er. Darüber war die Fachliteratur liegengeblieben und hatte sich auf einer Ablage zu stapeln begonnen, griffbereit und doch nie angerührt, eine stetige Mahnung. Auf dem Schreibtisch lagen fast nur noch die Sprachbücher. Nur wenn er Kollegen zu Besuch hatte, bei denen die Gefahr bestand, daß sie das Arbeitszimmer betraten, arrangierte er die große Unordnung eines Wissenschaftlers mitten in der Arbeit, mit Bergen von aufgeschlagenen Büchern und Manuskripten. Es war jedesmal ein Kampf zwischen Angst und Selbstachtung, und es war immer die Angst, die siegte.
Zwischendurch hatte es regelmäßig Korrespondenz wegen der Forschungsgruppe gegeben. Anfragen wegen praktischer Einzelheiten waren zu beantworten und offizielle Bestätigungen zu schreiben gewesen. Er hatte das in seinem Büro in der Universität erledigt. Zu Hause hatte nichts an den unaufhaltsam näher rückenden Aufbruch erinnert, und er war routiniert geworden, geradezu virtuos, daran nicht zu denken.
Für seine Vorlesungen benutzte er seit langem schon alte Manuskripte, die ihm fremd geworden waren, und bisweilen war er sich dabei vorgekommen wie sein eigener Pressesprecher. Kam dann eine unerwartete Zwischenfrage aus dem Publikum, die ihn in Bedrängnis brachte, so verschaffte er sich eine Atempause, indem er mit gezielter Langsamkeit Dinge sagte wie:«Wissen Sie, das ist so:...», oder:«Das ist eine gute Frage...»Es waren entfremdete Formeln, die er früher niemals gebraucht hätte, und er haßte sich für sie. In den Seminaren lebte er von der Hand in den Mund und verließ sich auf sein Gedächtnis. Er war ein Routinier, er dachte und reagierte schnell, und wenn es sein mußte, weil er nichts Substantielles mehr auf der Hand hatte, konnte er ein rhetorisches Feuerwerk abbrennen. Studenten waren damit immer noch zu beeindrucken. Im Alltag des Lehrbetriebs, das dachte er fast jedesmal beim Verlassen des Übungsraums, würde seine Tarnung halten.
Doch dies hier war etwas ganz anderes. In weniger als drei Stunden kamen Leute an, denen man nichts vormachen konnte, Leute, die nicht mit derartigen Empfindungen zu kämpfen hatten, ehrgeizige Leute, die an die Rituale der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und an die Situation fortwährender Konkurrenz gewöhnt waren. Sie kamen mit neuen eigenen Arbeiten, mit dicken Manuskripten, mit Projekten und Perspektiven, und sie brachten hohe Erwartungen an die anderen mit, und eben auch Erwartungen an ihn, Philipp Perlmann, den prominenten Linguisten. Diese Erwartungen machten sie für ihn zu einer Bedrohung, sie wurden dadurch zu seinen Gegnern, ohne daß sie davon etwas ahnen konnten. Menschen wie sie besaßen ein sehr feines Gespür für alles, was mit der sozialen Wirklichkeit ihrer Wissenschaft zu tun hatte, sie registrierten mit seismographischer Genauigkeit, wenn etwas nicht stimmte. Sie werden merken, daß ich nicht mehr dabei bin. Daß ich nicht mehr zu ihnen gehöre. Und früher oder später in diesen fünf Wochen würde es herauskommen: Ausgerechnet er, der Leiter der Gruppe, der Regisseur des Ganzen, würde mit leeren Händen dastehen – wie einer, der seine Schulaufgaben nicht gemacht hatte. Sie würden ungläubig reagieren, es würde ein stiller Skandal. Gewiß, eine Fassade von Freundlichkeit würde bestehen bleiben; aber es würde eine Freundlichkeit sein, die tötete, weil derjenige, dem sie galt, die Gewißheit hatte, daß sie ein bloßes Ritual war, das die stillschweigende Ächtung nicht zu mildern vermochte.
Es war jetzt kurz nach eins. Perlmann hatte einen flauen
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