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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Gefüge der wissenschaftlichen Routine. Aber ihm selbst fiel zunehmend auf, daß ihm Fragestellungen verlorengingen, vor allem solche, die noch nicht eingeschliffen waren und noch nicht zum festen rhetorischen Bestand des Fachs gehörten – die neuen und interessanten Fragestellungen also, die gerade deshalb, weil sie noch nicht so gut verankert waren, stetige Aufmerksamkeit erfordert hätten. Er war, wenn er zufällig in seinen Unterlagen blätterte, überrascht, was er da fand, und erschrocken, daß er es einfach vergessen hatte.
    Das Schlimmste war: Er war sicher, daß es sich nicht um etwas Vorübergehendes handelte, um eine Krise, von der man wissen konnte, daß sie vorbeigehen würde, wenn auch nicht wann und auf welche Weise. Es fühlte sich bedrohlich an, aber er wußte, daß das, was da mit ihm geschah, unumkehrbar war und unentrinnbar. Hinter dem Gefühl der Bedrohung, das fand er erst allmählich heraus, gab es in guten Momenten das befreiende, fast beglückende Staunen darüber, daß sich in ihm etwas entwickelte, und zwar etwas im Zentrum, im Kern seines Lebens. Aber diese hin und wieder durchschimmernde Empfindung milderte die Angst in keiner Weise. Es gab gewissermaßen keine Berührung zwischen den beiden Empfindungen, sie liefen unverbunden nebeneinander her. Und es erging ihm merkwürdig mit diesem Gefühl, nach dem er immer öfter zu greifen versuchte, das sich aber als unstet und unzuverlässig erwies: Er war sich nie sicher, ob es eine echte Empfindung war oder eine, die er in sich heraufbeschwor und gewissermaßen erfand, um etwas zu haben, an dem er sich festhalten konnte, wenn die gespürte Veränderung ihn zu sehr ängstigte.
    Als er wieder ins Buch sah und sich abfragte, stellte er fest, daß er nur ein einziges russisches Wort für müssen behalten hatte. Er gab auf und griff zum anderen Buch, das er aus dem Zimmer mitgenommen hatte, als er beschloß, die letzten freien Stunden auf der Terrasse des Hotels zu verbringen. Es war Robert Walsers Jakob von Gunten, ein Buch, das ihm gestern morgen vor dem Regal plötzlich wie der ideale Begleiter erschienen war, obgleich er es seit vielen Jahren nicht mehr in der Hand gehabt hatte und die Erinnerung an die Titelfigur und das Institut Benjamenta blaß und vage geworden war. Er war auf der Reise mehrmals kurz davor gewesen, es aufzuschlagen, hatte dann aber jedesmal eine sonderbare, unerklärliche Scheu empfunden, die seiner Neugierde im Wege stand. Als ob in dem Buch etwas über ihn stünde, das er lieber nicht wissen wollte.
    Der erste Satz verschlug ihm den Atem: Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein. Wie betäubt blickte Perlmann dem Kellner nach, der dem rothaarigen Mann am Schwimmbecken auf einem silbernen Tablett ein Getränk brachte. Es vergingen Minuten, bevor er den Mut fand weiterzulesen, widerstrebend und gleichzeitig fasziniert von diesen erschütternden Sätzen, die mit gespenstischer Leichtigkeit hingeschrieben waren. Und dann, nach wenigen Seiten, kam eine Stelle, die er empfand, als schlüge ihn jemand ins Gesicht: Herr Benjamenta fragte mich, was ich wolle. Ich erklärte ihm schüchtern, daß ich wünsche, sein Schüler zu werden. Darauf schwieg er und las Zeitungen.
    Der letzte Satz, nein, er durfte nicht dastehen. Er war in seiner Harmlosigkeit ein Satz, den man nicht aushalten konnte. Perlmann legte das Buch weg. Nur langsam nahm das Pochen seines Bluts ab. Er begriff nicht warum, aber der Bericht des Zöglings Jakob schien in gewissem Sinne von ihm selbst zu handeln. Auf einmal war er ganz sicher, daß der Text, der zustande käme, wenn es ihm gelänge, seine eigene Not in Sätze zu fassen, einen verwandten Ton hätte. Es müßten Sätze von ebenbürtiger Eindringlichkeit sein und genauso schneidend, wollten sie wirklich einfangen, wie es ihm nun schon seit Jahren ging, wenn er den Hörsaal betrat.
    Lampenfieber war es nicht. Es war nicht die Angst, plötzlich ins Publikum oder vor sich aufs Pult zu starren und alles vergessen zu haben. Unter dieser Vorstellung hatte er früher gelitten, aber das war seit langem vorbei. Es war etwas anderes, etwas, das er erst nach langer Zeit und mit einem stillen Erschrecken erkannt hatte: das ganz präzise Gefühl, daß er nichts zu sagen hatte. Im Grunde fand er es albern, daß er jede Woche von neuem unter den

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