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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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aufgestanden, um sich über seine Empfindungen klarzuwerden.
    Er war froh, daß im nächsten Absatz von Sätzen die Rede war, die, statt etwas zuzuschütten, den Weg in eine vorerst nur erahnte Freiheit zu weisen vermochten, indem sie einen neuen Zustand der Innenwelt, der bislang nur als voraushuschender Erlebnisschatten gegenwärtig war, in Worte faßten und dadurch vor dem neuerlichen Entgleiten bewahrten. NEIN SAGEN KÖNNEN OHNE INNEREN AUFWAND: DARAUF KÄME ES AN. Und einen Absatz weiter: DIE ANDEREN SIND WIRKLICH ANDERE. ANDERE. AUCH DIEJENIGEN, DIE MAN LIEBT.
    Die Luft, die hereinströmte, als er das Fenster öffnete, schien auf einmal gar nicht mehr warm wie vorhin. Drüben in Sestri Levante tobte ein Brand, der sogar von hier aus noch ziemlich groß aussah. Verzerrt durch einzelne Windstöße, welche die Pinien unten auf der Terrasse wippen ließen, hallten die Sirenen der Feuerwehr herüber.
    Handelte es sich bei all diesen Beispielsätzen, die er mit einer Ausnahme auf deutsch hingeschrieben hatte, so daß sie ihm jetzt mitten im englischen Text durch die eindringliche Vertrautheit der Muttersprache förmlich entgegensprangen, eigentlich um Sätze, die auf ihn zutrafen?
    Es kam ihm vor, als zerflössen seine inneren Konturen, wenn er sie für eine Antwort auf diese Frage genau ins Auge fassen wollte, und es ging ihm durch den Kopf, daß dieses Gefühl dem Eindruck glich, den man von den Dingen hatte, wenn man ihnen unter Wasser entgegenschwamm. Unsicher, fast furchtsam, blätterte er um und fand ein paar sehr sorgfältig geschriebene Seiten über den Zusammenhang von Sprache und Gegenwart. In einem ersten Anlauf hatte er, in verschiedenen Varianten, skizziert, wie der sprachliche Ausdruck Erfahrungen Gegenwart und Tiefe verleihen konnte, indem er das Erlebte der Flüchtigkeit entriß. Und zu seiner Überraschung fand er, in Klammern gesetzt, einen Exkurs, in dem er die sprachliche und die fotografische Fixierung von Gegenwart verglichen hatte.
    Perlmann war erstaunt, wie hartnäckig und genau er hier nachgedacht hatte, und gleichzeitig tat es weh zu spüren, wie deutlich er dabei Agnes’ Fotografien vor Augen gehabt hatte. Er nahm die Brille ab und faßte an die Nasenwurzel.
    Der junge Sizilianer im abgewetzten Armeemantel, der den zerschlissenen Koffer und die Mütze auf den Bahnsteig hatte fallen lassen und nun die Braut, die er um die Taille faßte, in der Luft herumwirbelte. Agnes hatte an die zwanzig Bilder der Szene geschossen. Veröffentlicht wurde eines, auf dem die junge Frau, gegen Schwindel ankämpfend, ihre Hand vor das lachende Gesicht hielt, das über der Schulter des Mannes zu sehen war, das halbe Kinn von seinem aufgestellten Mantelkragen verdeckt. Für dieses Foto hatte Agnes viel Lob geerntet. Aber zu Hause aufgehängt hatten sie ein anderes, das sie viel besser fanden: Es hielt den Wirbel in genau dem Augenblick fest, in dem die Drehung, unterstützt von fliegendem Haar, beide Gesichter verbarg, so daß der Betrachter sich aufgefordert fühlte, die Gesichter zu erfinden.«Das dachte ich mir! »hatte Agnes gelacht, als er sich über das wirkliche, sehr bäurische Gesicht der Braut enttäuscht äußerte und ein anderes erfand.
    Und dann jenes andere Bild: der hagere Chinese, der sich, die eine Hand auf dem Sattel des Fahrrads, zu seinem Sohn hinunterbeugte und ihm die Wange zum Kuß bot. Das Kind, ein Pimpf mit einer Ballonmütze, die ihm bis über die Ohren reichte, hielt ihm das Gesicht entgegen und büschelte die Lippen, während die vom Schirm der Mütze halb verdeckten Augen von etwas ganz anderem gefangengenommen wurden, das in der Richtung des Fotografen liegen mußte. In Schanghai hatte Agnes das Bild gemacht, auf jener Reise, auf der auch dieser André Fischer von der Agentur mit war, über den sie sich so ausdrucksvoll ausgeschwiegen hatte.
    Schleppend kehrten Perlmanns Gedanken in die Gegenwart des Hotelzimmers zurück. Das Feuer jenseits der Bucht war jetzt offenbar unter Kontrolle. Er riß eine neue Packung Zigaretten auf und las auf der nächsten Seite Gegenteiliges: Gegenwart als etwas seinem Wesen nach Flüchtiges, das durch sprachliche Beschreibung künstlich eingefroren wurde. Dadurch wurde nicht Gegenwart gestiftet, sondern die bloße Illusion von Gegenwart erzeugt. Die wirkliche Gegenwart, hatte er notiert, entstünde durch die Bereitschaft, sich rückhaltlos der Flüchtigkeit des Erlebens zu überlassen. Und dann kamen, durch Einrücken hervorgehoben, zwei deutsche

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