Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Fassung verschwendet. Ein schlechtes Gewissen beschlich ihn, und er wehrte sich unwillkürlich gegen dessen Last, indem er sich in der forcierten Überzeugung vergrub, daß es eindeutig der Übersetzung galt und nicht etwa der versäumten Lektüre für die morgige Sitzung.
Es war etwas ganz Bestimmtes, was er suchte, während er nachher, auf die Wirkung des Schlafmittels wartend, in den Halbschlaf glitt. Er würde es sofort erkennen; aber noch reichte dieser abstrakte Eindruck der Bestimmtheit nicht aus, um gezielt die Tür zum richtigen Korridor der Erinnerung aufstoßen zu können. Erst nachdem er die angestrengten Versuche aufgegeben hatte, war es plötzlich da: Damals, auf der ersten Reise nach Venedig, hatte er kein einziges Mal an Vaters Mestre-Satz denken müssen. Verwundert vergrub er das Gesicht im Kissen und ließ sich auf das Vergessen zugleiten. Im letzten Moment schrak er auf und stützte sich auf die Ellbogen, die Hände verschränkt, die beiden Daumen an der Nasenwurzel. Wieder rang er mit den schrecklichen Bildern aus Peking, die es wie blanken Hohn aussehen ließen, daß einer es wichtig finden konnte, ob er vor Jahren einmal an einen bestimmten Satz gedacht hatte oder nicht. Und wieder endete das Ringen in einem Trotz, der um so heftiger wurde, je undurchsichtiger das Problem vom Standpunkt der Rechtfertigung aus erschien.
Erschöpft ließ er den Kopf wieder ins Kissen fallen und glitt bald in einen Traum, der nur darin bestand, daß er, schwitzend wie in einem Examen, nach dem chinesischen Namen des großen Platzes in Peking suchte. Die vergebliche Suche machte ihn so wütend, daß er das gespenstisch ungreifbare Wort so lange immer wieder in ein kariertes Heft schrieb, bis daraus lauter Sätze der Eltern wurden, die er in der Absicht, sie durchzustreichen, dick unterstrich. Schließlich knallte er das offene Heft mit den Seiten nach unten auf den Tisch und war erstaunt, daß es, obwohl es doch eindeutig Sandras Heft war, einen Umschlag aus schwarzem Wachstuch hatte.
16
Signor Perlmann!»Maria holte ihn ein, als er am nächsten Morgen fünf nach neun durch die Halle hetzte.«Ich wollte nur fragen, wann ich anfangen kann, Ihren Text zu schreiben. Es ist nämlich so: Jetzt, wo ihre alte Schreibmaschine repariert ist, gibt mir Signora Sand nichts mehr zu tun, und Evelyn, ich meine Signorina Mistral, hat selbst einen Computer. Giorgio ist noch nicht soweit, und da dachte ich, ich frage mal Sie selbst. Jetzt hätte ich nämlich Zeit, und man sagte mir, daß Sie heute in zehn Tagen dran sind. Signor Millar hat zwar auch noch Arbeit für mich, aber natürlich kommen Sie zuerst. »
Perlmann schloß einen Moment die Augen und nahm die andere Hand zu Hilfe, als er spürte, wie der Stoß mit von Levetzovs Texten ihm unter dem Arm wegzurutschen drohte.
«Erst in vierzehn Tagen», sagte er dann heiser,«meine Sitzung ist erst in vierzehn Tagen. »
Maria rückte das gelbe Seidentuch im Ausschnitt ihres glitzernden schwarzen Pullovers zurecht und sah ihn unsicher an. Perlmanns Herz schlug so heftig, daß er den Eindruck hatte, sie müsse es hören.
«Ich lasse Signor Millar gerne den Vortritt», sagte er schließlich mit einem Lächeln, das sich auf dem Gesicht so fremd anfühlte, wie er sich das immer vorstellte, wenn er einen Steward im Flugzeug lächeln sah.
«Va bene», sagte Maria zögernd. Er hörte keine klappernden Absätze auf dem Marmorboden, als er in den Korridor zur Veranda einbog. Sie würde ihm nachdenklich nachsehen.
Von Levetzov schob gerade die Uhr zurück in die Westentasche, als Perlmann sich setzte. Dieser Mann mit dem glatten, schwarzen Haar und der randlosen Brille, der auch heute wieder eine neue Krawatte trug und mehr denn je wie ein Bilderbuch-Senator aussah, paßte so gut in den hohen, geschnitzten Sessel, als sei der Sessel extra für ihn angefertigt worden.
«Wir sollten Ihnen zunächst sagen», wandte er sich an Perlmann,«daß wir beschlossen haben, nun doch auch in der zweiten Hälfte dieser Woche zu tagen. Es kam uns plötzlich unsinnig vor, die wenige Zeit, die wir haben, zu verschenken. Laura wird den Block von Donnerstag und Freitag übernehmen, Evelyn macht den Anfang der nächsten Woche, und Sie wären dann in zehn Tagen dran. Auf diese Weise bleiben am Schluß ein paar Jokertage, je nachdem, wann Giorgio es einrichten kann. Natürlich nur, wenn Ihnen das recht ist», fügte er mit einem Ausdruck hinzu, aus dem sich nicht der geringste Argwohn herauslesen
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