Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
den Nachtzug nach Deutschland umstieg.
Als er sich kurz vor Frankfurt in der Zugtoilette das übernächtigte, unrasierte Gesicht wusch, merkte er mit Verwunderung, daß er froh und zufrieden war, die Reise gemacht zu haben.
«Mestre ist wunderschön», sagt er, als ihn Agnes ansah.«Du müßtest die Piazza Ferretto sehen! Und die Galleria! »
Er sagte es ironisch, aber sie mochte diese Schattierung der Ironie nicht. Sie spürte, daß dahinter ausgehaltene Einsamkeit stand, und daß diese Einsamkeit ihm eine unangenehme, rücksichtslose Stärke verlieh, eine Stärke, die ihn, weil sie mit Schmerz getränkt war, dazu treiben könnte, sich für etwas grausam zu rächen.
Perlmann duschte lange und las dann weiter. Wieder wechselte die Mine des Kugelschreibers, und die Schrift wurde fahrig, als sei er in Eile gewesen oder gereizt. Language as an enemy of imagination. Daran erinnerte er sich überhaupt nicht mehr, er las es wie den Text eines Fremden, erstaunt, unsicher und doch auch ein bißchen stolz, daß er sich offenbar im Laufe der Zeit mehr Gedanken gemacht hatte, als er sich zugetraut hätte.
Das Denken in Sätzen – so las er – bedeute stets eine Verringerung von Möglichkeiten. Nicht nur in dem einfachen Sinne, daß der tatsächlich gedachte Satz sowohl der Logik als auch der Aufmerksamkeit nach andere Sätze ausschließe, die statt dessen hätten gedacht werden können. Wichtiger sei, daß sich sprachliches Denken zunächst am Repertoire gewohnter, eingefahrener Sätze orientiere, in denen ein vertrautes Bild der Dinge zum Ausdruck komme, das in seiner Vertrautheit ohne Alternative zu sein scheine. Dieser Eindruck, daß man die Dinge gar nicht anders sehen könne, sei der natürliche Feind der Phantasie als der Fähigkeit, sich alles ganz anders vorzustellen. Und nun folgte Beispiel auf Beispiel. Zunächst war Perlmann nur voller Staunen über die Vielfalt der Beispiele; doch in dem Maße, in dem die skizzierten Alternativen zum Bestehenden immer radikaler wurden, erkannte er den Text immer deutlicher als seinen eigenen, weil sein Haß auf leere Konventionen immer unverhohlener zum Ausdruck kam.
Im nächsten Absatz kamen Beobachtungen, welche in die genau entgegengesetzte Richtung liefen. Sätze als ein Medium, das den Erzählenden zu immer neuen Bildern trieb, die ihn vollständig überraschen konnten. Sprache und Phantasie. War das nicht auch Evelyn Mistrals Thema? Oder war das eine Täuschung, hervorgerufen durch die bloße Verbindung der beiden Wörter? Perlmann spürte, wie seine Gedanken bröckelten, und diese Empfindung des Entgleitens verschmolz mit einem Gefühl der Schwäche, das vom leeren Magen ausging. Er schlüpfte in die Jacke und war schon auf dem Flur, als er noch einmal aufschloß und das Wachstuchheft unter die Tagesdecke auf dem Bett schob. Dann ging er auf einem Schleichweg zur Trattoria.
Das Federbett hatte Sandra offenbar mit Fußtritten auf den Boden befördert, und sie selbst lag in Kleidern auf dem Bett, den einen Kniestrumpf bis zum Knöchel hinuntergeschoben, die Wange tief ins Kissen gedrückt. Er müsse unbedingt nach ihr sehen, hatten die Eltern gesagt, kaum hatte er das Lokal betreten. Sie waren wortkarger gewesen als sonst, erfahren hatte er nur, daß morgen eine Klausur in Mathematik bevorstand, und am Gesicht der Mutter war zu erkennen gewesen, daß es einen Streit gegeben hatte, den sie jetzt bereute.
Der glänzende Zopf hing über die Bettkante und baumelte bei jedem Atemzug leicht. Perlmann blickte auf die zuckenden Lider und die herunterhängende Hand mit dem kitschigen Ring und dem angekauten Daumennagel. Einmal wurden die ruhigen Atemzüge durch ein schwaches Röcheln unterbrochen. Er ging zu dem kleinen, vom Vater gezimmerten Schreibtisch hinüber und nahm das Heft auf, das Sandra trotzig mit den Seiten nach unten hingelegt hatte. Die beiden letzten Blätter waren voll von wütend durchgestrichenen Rechnungen. Er klappte das Heft zu, löschte die Lampe und ging nach unten. Sie schlafe, sagte er knapp, und die Wirtin zuckte zusammen, als sie merkte, wie ihr ängstlicher Blick an seinem verschlossenen Gesicht abprallte.
«Ich habe ja nur gemeint... », sagte sie kleinlaut, als sie ihm nachher die Chronik brachte.
Für die Tage seiner unsinnigen, einsamen Reise nach Mestre verzeichnete die Chronik nichts. Perlmann blätterte zurück: Blutbad auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Er las die Spalte nicht zu Ende. Gegen sein Gefühl rang er
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