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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Zeilen, die ihn erneut vollständig überraschten: Gegenwart: ein Parfum, ein Licht, ein Lächeln; eine Erleichterung, ein gelungener Satz, ein Flirren unter Oliven.
    Daß er sich auf diese Weise, experimentierend mit Wörtern, Bildern und Rhythmus, mit seiner vergeblichen Suche nach Gegenwart beschäftigt hatte, war ihm gänzlich entfallen gewesen. Zwei Zigaretten lang versuchte er vergeblich, die Szene zurückzurufen, in der diese Zeilen entstanden waren. Plötzlich nahm er einen Zettel und schrieb: versunken in wei ß em Vergessen. Während er die Zigarette langsam ausdrückte, bis der restliche Tabak vollständig zerbröselt war und der bloße Filter am Glas des Aschenbechers entlangscheuerte, starrte er auf die Worte. Dann zerknüllte er den Zettel und warf ihn mit einer matten Bewegung in den Papierkorb.
    Noch anderthalb Seiten; der Rest des Hefts waren leere Blätter, aus denen, als er sie schüttelte, der Flügel einer toten Fliege auf Leskovs Text fiel. Ein langer Absatz, und zum Schluß ein ganz kurzer. Im langen, geschrieben mit demselben Stift wie das Vorangehende, wurde eine Beobachtung wiedergegeben, die Perlmann berührte, als lese er sie zum allererstenmal: Das Experimentieren mit Sätzen sei ein Mittel herauszufinden, welche Erfahrungen man eigentlich wirklich mache. Denn allein dadurch, daß man Erfahrungen mache – etwas erlebe-, wisse man noch lange nicht, welche es seien. Sprachlosigkeit als Erlebnisblindheit, hatte er auf deutsch hingeschrieben. Unwirsch, weil ihm das bombastisch vorkam, las er weiter und fand eine Beobachtung, die ihn noch mehr frappierte: Es könne einem passieren, daß man im Medium alter, überholter Sätze weiterdenke und sich dadurch für einen halte, der immer noch die alten Erfahrungen mache, obwohl inzwischen ganz neue Erfahrungen ins alte Gefüge eingesickert seien, die ihre verwandelnde Kraft indessen erst würden entfalten können, wenn sie auch in neue Sätze gegossen würden.
    Während Perlmann diesem Gedanken nachhing, fiel ihm plötzlich ein, unter welchen Umständen er die Zeilen über Gegenwart, Parfum und Lächeln hingeworfen hatte. Ein Winterabend war es gewesen, und die Druckfahnen der zweiten Auflage seines letzten Buches hatten im Lichtschein der Schreibtischlampe gelegen. Zunächst war es der Inhalt des Texts gewesen, mit dem er nichts mehr anfangen konnte. Dann hatte sich diese Empfindung des Abgestandenen auf alles andere ausgedehnt – auf Papier und Druck insgesamt, auf Arbeitslicht, Schreibtisch und gebeugte Rücken. Die fraglichen Zeilen hatten ihn für einen Augenblick hinausgetragen in einen helleren, freieren Raum, in die tröstliche Enklave der Phantasie. Weiter hatte der Protest nicht gereicht. Warum nicht? Warum bin ich nie aufgestanden und gegangen? Perlmann stutzte. Er wußte nicht, ob die Frage erst jetzt in ihm entstanden war, oder ob sie auch zur Erinnerung an jenen Moment gehörte, wo er den scharfen Lichtkegel der Lampe wie eine Folter empfunden hatte.
    Die wenigen Sätze des letzten Absatzes las er mit wachsender Scheu, und auf einmal schienen ihn die Augen zu schmerzen, so daß er am liebsten verhinderte hätte, daß sein Blick das linierte Papier berührte. Was mich von meiner Gegenwart trennt, ist wie ein feiner Nebel, ein ungreifbarer Schleier, eine unsichtbare Wand. Sie leisten nicht den geringsten Widerstand. Es würde nichts zersplittern, wenn ich hindurchschritte. Denn eigentlich ist da gar nichts zwischen mir und der Welt. Ein einziger Schritt würde genügen. Warum habe ich ihn nicht längst getan?
    Noch während sein Blick über die Wörter huschte, begann Perlmann das Heft zuzumachen, und die Schlußfrage konnte er nur noch erhaschen, indem er schnell den Kopf schräg stellte. Dann verstaute er das Heft wieder im Handkoffer und zog die Riemen unnötig fest zu.
    Als er sich erhob, fiel sein Blick auf von Levetzovs Texte, die sich auf dem Schreibtisch stapelten. Gleich würde er Noch neun Tage denken, das spürte er überdeutlich, und das Herz nahm bereits Anlauf zum beschleunigten Pochen. Hastig griff er zu einer Zigarette und erstickte den Gedanken durch einen Blick gepreßter Konzentration auf Leskovs Text.
    Noch fast fünf Seiten, das sah er schnell, ging es mit den erinnerten Sinneseindrücken weiter, bevor dann das Schlußstück über die Aneignung der Vergangenheit begann. Seine Aufzeichnungen hatten ihn daran gehindert, heute fertig zu werden, und dann hatte er auch noch Stunden an den Versuch mit der italienischen

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