Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
sich an die trotzige Empfindung, mit der er sein Gesicht stundenlang gegen das Zugfenster gepreßt hatte, so daß die Mitreisenden mehrmals fragten, was es denn da so Interessantes zu sehen gebe.
In Mestre war er in ein Hotel gegenüber dem Bahnhof gegangen, wo ihm der Page jenen Tanzsaal von einem Zimmer aufgeschlossen hatte. Nach ein paar Stunden Schlaf war er in der hereinbrechenden Dämmerung durch nichtssagende Straßen getrottet, bis er vollständig durchnäßt war. Nachher, in der Badewanne, hatte er nur noch Leere empfunden. Es war grotesk und grenzte an Irrsinn: Die ganze Reise, dieses ganze Exerzitium, nur um mit diesem einen Satz des Vaters abzurechnen. Wie wenn er ein Exempel statuieren wollte, stellvertretend für all den übrigen Sprachschutt. Statuieren für wen? Niemand sah es, niemand nahm es zur Kenntnis. Im Gegenteil: Er würde es niemandem erzählen können, man würde ihn auslachen oder ansehen wie einen Gestörten. Wozu also? Wäre ein gleichgültiges Schulterzucken nicht viel wirksamer gewesen? Das schlimmste war, daß Agnes ihn innerlich nicht begleitete. Sie hielt die Reise für Irrsinn und war wütend über seinen Fanatismus. Gegen dieses Wissen half auch der Film mit seinen Lieblingsschauspielern nichts, der im Fernsehen lief.
Später rief er zu Hause an und war froh, daß Kirsten abnahm. Ihre Stimme weckte die absurde Hoffnung, von ihr, einer Sechzehnjährigen, besser verstanden zu werden.
«Was machst du eigentlich wirklich in diesem... wie heißt es gleich... Mestre?»fragte sie.
Nach einer Pause, in der es glücklicherweise rauschte und knackte, fragte er sie, wie man es mache, in der Gegenwart zu leben.
«Was? Ich höre dich so schlecht.»
Er wiederholte die Frage, jetzt im vollen Bewußtsein der Lächerlichkeit.
«Papa, bist du betrunken?»
Nein, es sei nicht nötig, die Mama zu holen, sagte er, sie möge ihr nur ausrichten, er sei gut angekommen.
Sich selbst mußte er die Falschheit des Satzes doch gar nicht beweisen. Ihm stand er eigentlich längst nicht mehr im Wege. Er war ohne weiteres bereit, sich Mestre als eine blühende Stadt vorzustellen, meinetwegen wie Kyoto in der Kirschblüte. Das hatte er schon am Bahnhof in Frankfurt gedacht, und einen Moment hatte er erwogen umzukehren. Aber inzwischen empfand er es als eine Frage des Gesichtsverlusts und war zugleich zusammengezuckt bei dem Gedanken, daß so etwas zwischen ihm und Agnes plötzlich eine Rolle spielte.
Mußte er es immer noch dem Vater beweisen? Oder war die Reise einfach eine bizarre Art und Weise, die Wut über Berge von sprachlichem Schutt abzureagieren? Stellvertretend für alle Sätze? Wieso war niemand anderes wütend über die erstickende Kraft sprachlichen Schutts? Er hatte sich auf dem Bahnhof umgesehen und auch im Zugals könne man jemandem so etwas ansehen.
Hätte er diese absurde Reise auch gemacht, wenn er sich mit seiner einsamen Wut gegen niemanden hätte behaupten müssen? Hätte er sie auch gemacht, wenn er ganz allein auf der Welt dastünde? War es am Ende vor allem eine Reise gegen Agnes?
Die Frage hatte ihn verfolgt, als er am nächsten Tag kreuz und quer durch Mestre gestiefelt war. Es war absurd, durch eine Stadt – irgendeine Stadt – zu gehen und sich andauernd zu fragen, ob sie schön oder häßlich sei. Absurd war gar kein Ausdruck dafür, hatte er gedacht. Und dann war er plötzlich auf der Piazza Erminio Ferretto gelandet, einem langgezogenen Platz mit vielen Cafes und einer Unmenge von Leuten, die rauchend und schwatzend den Feiertag genossen. Trotz der vielen Leute hatte es ihm hier gefallen. Es hatte ihm gefallen, Agnes hin oder her. Unweit des Platzes fand er nachher noch die Galleria Matteotti, ein kleinstädtisches Echo der berühmten Mailänder Galleria. Er wußte nicht, ob es Verzweiflung oder Selbstironie war, aber er hatte sie ausgeschritten, diese unbedeutende Passage, dreiundfünfzig bequeme Schritte waren es gewesen, das wußte er heute noch.
Nachmittags, als er in Venedig vor dem Albergo stand, wo ihm Agnes das Haar gewaschen hatte, tat es dann wieder weh. Die Sonne brach durch, als er sich in jenes Cafe setzte, wo damals ihr rätselhaftes«Jaa»gefallen war. Die Touristen zogen Mäntel und Jacken aus. Ihn hielt es nicht. Mitten in der Bestellung entschuldigte er sich beim Kellner und ging mit raschen Schritten zum Vaporetto, das ihn zum Bahnhof brachte. In Mestre bezahlte er die unverschämt hohe Hotelrechnung und fuhr auf direktem Wege nach Mailand, wo er in
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