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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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sich beim Bezahlen, gegen das der Wirt heute nicht mehr zu protestieren wagte, ein versöhnliches Lächeln ab. Dann ging er durch den außergewöhnlich warmen Abend zum Hafen und setzte sich ganz vorne am Damm auf einen Felsbrocken, an dem sich die leichten Wellen brachen.
    Tausende von Menschen waren erschossen worden, und er hatte drei Tage seines Lebens an einen harmlosen, lächerlichen Satz verschwendet, den jeder andere längst vergessen hätte. Er hatte das Gefühl, sich ganz klein machen und für diesen Verlust aller Maßstäbe dadurch büßen zu müssen, daß er in vollkommener Reglosigkeit auf die feinen Bänder aus Gischt starrte, die sich zuckend aus der Nacht herauslösten. Erst als er zu frösteln begann, nahm er die Brille ab und wischte die trübende Salzschicht weg.
    Es war diese Bewegung, die ihm zu Bewußtsein brachte, daß sich schon eine ganze Weile Widerstand in ihm regte gegen das anfängliche Schuldempfinden. Es war eben nicht ein x-beliebiger Satz gewesen, gegen den er angekämpft hatte, sondern ein Satz, mein Satz, der stellvertretend für all den sprachlichen Schutt stand, der eines Menschen Erfahrung einschnüren und ersticken konnte. Sätze als Quelle der Unfreiheit. Und die Geschichte mit den Maßstäben, den Proportionen, die es zu wahren galt – sie stimmte auch nicht. Jedenfalls hier nicht. Perlmann hätte gern gewußt, wo der Fehler lag, wenn man meinte, aus der Erweiterung der Perspektive ergebe sich automatisch die völlige Unwichtigkeit aller Dinge in der verlassenen Enge. Aber die Erklärung kam nicht. Er wußte nur: So war es nicht, auch dann nicht, wenn die Erweiterung über das Geographische hinaus die Größe des Leidens einschloß.
    Mit einer Bewegung heftiger Entschlossenheit erhob er sich, und während er langsam zum Hotel ging, rang er wortlos den inneren Gegner nieder, der ihm erneut seinen Mestre-Satz mit blutigen Bildern aus Peking lächerlich zu machen versuchte. Als die schräg gewachsenen Pinien des Hotels, die Fahnen und Laternen in Sicht kamen, begann er zu ahnen, daß, wenn er sich zu jener verrückten Reise bekannte, dies auch etwas mit seinem Kampf um Selbstbehauptung zu tun hatte, den er dort vorne im Hotel unablässig ausfocht. Und als er die Stufen der Freitreppe hinaufstieg, wurde aus dieser Ahnung ein heißer, pochender Trotz.
    Er hatte die Halle durchquert und war auf dem ersten Treppenabsatz angelangt, da hörte er die Stimmen der Kollegen, die aus dem Speisesaal kamen.
    «Das werden wir morgen ja sehen! »sagte Millar gerade, und dann war Adrian von Levetzovs Lachen zu hören, begleitet von Evelyn Mistrals heller Stimme.
    Unwillkürlich machte Perlmann einen Schritt gegen die Wand zu, nahm zweimal zwei Stufen und verschwand außer Sichtweite. Auch danach ging er eilig weiter und war außer Atem, als er in seinen Korridor einbog. Der ganze Flur war stockdunkel, die beiden Birnen mußten inzwischen ausgebrannt sein. Während er mit dem Schlüssel nach dem Schloß tastete, erschrak er darüber, wie unsicher ihn diese harmlose Dunkelheit machte. Nachher stand er mit klopfendem Herzen am Fenster und sah auf ein elegantes Paar hinunter, das sich, aus dem Restaurant kommend, in der Andeutung eines Tangoschritts auf die Treppe zubewegte, um dann lachend hinunterzuhüpfen und in einem Oldtimer mit Chauffeur zu verschwinden.
    Es dauerte lange, bis er seinen tröstlichen Trotz wiedergefunden hatte. Schließlich holte er das schwarze Heft mit den Aufzeichnungen unter der Tagesdecke hervor und las weiter.
    In den folgenden Absätzen wurde beschrieben, wie resümierende, scheinbar aus großer Übersicht entspringende Sätze darüber, was man war und wie man erlebte, zu einem Kerker werden konnten, indem sie zuwiderlaufenden Empfindungen das Wort abschnitten und die Innenwelt dadurch immer weiter schrumpfen ließen. Das besonders Tückische daran sei, hatte er notiert, daß solche Sätze den trügerischen Klang gewachsener Einsicht hätten, gegen den sogar der Urheber der Sätze sich kaum zu wehren vermöge. ICH BRAUCHE VIEL ANONYMITÄT, war eines der Beispiele, und ein anderes: ICH HÖRE AM LIEBSTEN ZU. Und etwas später: ICH BIN MENSCHENSCHEU GEWORDEN.
    Perlmann erinnerte sich dunkel: Er hatte diese Zeilen nach einem geselligen Abend mit Freunden von Agnes geschrieben. Weil ihm die Zeit so langsam und klebrig erschienen war, hatte er viel zu viel geredet, auch über sich. Nachher, im Dunkeln, war ihm alles Gesagte ganz falsch vorgekommen, und er war noch einmal

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