Perry Clifton und das Geheimnis der weißen Raben
eine dicke Bohlentür zugeht, die versteckt hinter einem Mauervorsprung liegt. Als sie kurz darauf die wenigen Stufen, die zu einem langen Gang führen, hinuntersteigen, fragt Dicki:
„Warum sind denn die Waffen nicht in einem großen Saal, Mister?“
Der Mann beeilt sich mit der Antwort: „Sind sie ja, sind sie. Wo wir jetzt hingehen, das ist ja nur der Waffenkeller.“
„Aha“, nickt Dicki, der sich noch nichts unter diesem Begriff vorstellen kann. Aber das gibt man schließlich nicht so ohne weiteres zu. Sie bleiben vor einer Tür stehen, in deren Schloß ein mächtiger Schlüssel steckt.
„Die Herrschaften scheinen noch gar nicht da zu sein!“ murmelt der Mann, und in seiner Stimme schwingt ein Unterton mit, der Dicki aufhorchen läßt. Der Mann dreht den Schlüssel herum und drückt den neben der Tür befindlichen Schalter herunter. Ohne Geräusch gibt die Tür dem Druck nach. Andächtig staunend betrachtet Dicki das herrliche und zugleich faszinierende Durcheinander von messingbeschlagenen Kisten, von Schwertern, alten Musketen, einem Berg Ketten, Pickelhauben, Lanzen und Schilden. Inmitten dieses Wirrwarrs aber steht matt schimmernd eine Ritterrüstung.
„Eine richtige Rüstung“, flüstert Dicki andächtig und geht, wie von einem Magnet angezogen, darauf zu. Behutsam streicheln seine Finger über das kühle, allerdings auch ein wenig verstaubte Metall.
„Das ist nur ein Ausstellungsstück“, erklärt der Mann mit der Narbe. „Hier, dieser Sockel ist aus Blei, damit er nicht umfallen kann. Früher stand er oben in der Halle.“
Der Mann hantiert an dem „eisernen Anzug“ herum, und plötzlich schwenkt die vordere Hälfte der Rüstung wie eine Tür auf. Dicki kommt aus dem Staunen nicht heraus. Er ist so mit dem Neuen beschäftigt, daß er nicht eine einzige Sekunde lang Verdacht schöpft.
»Willst du dich mal hineinstellen?“ fragt der Mann, und Dicki zögert keinen Augenblick: „Kann da nichts passieren?“
„Was soll da schon passieren. Umfallen kann die Rüstung nicht.“
Während Dicki in die offene Rüstung klettert, blitzt es in den Augen des Mannes triumphierend auf. Er schließt das Vorderteil und klappt das Visier hoch, so daß Dicki heraussehen kann. Er lacht über das ganze Gesicht.
„Toll!“ ruft er. „Wollen Sie auch mal?“
„Ich?“ lacht der Mann mit seiner tiefen Stimme voller Hohn. „Ich glaube kaum, daß wir darin zu zweit Platz haben, mein Sohn.“
Dickis Gesicht hat alle Farbe verloren, und in seinen Augen steht das blanke Entsetzen.
„Bitte, lassen Sie mich wieder heraus, Mister…“ stöhnt er mit heiserer Stimme.
„Dein Mister Clifton wird dich schon irgendwann mal befreien. Hier, damit du nicht so allein bist!“
Mit diesen Worten klemmt der Mann den weißen Raben auf der linken Schulter der Rüstung fest. Dicki verfolgt jede Handbewegung des Fremden mit brennenden Augen. Sein Mund ist wie ausgetrocknet, und seine Knie scheinen plötzlich aus Gummi zu sein.
Dicki ahnt, daß jedes Bitten und Flehen vergeblich wäre. Er weiß, daß dies alles zu einem bestimmten Plan gehört. Und Dicki Miller weiß jetzt auch mit erschreckender Deutlichkeit, welche Fehler er gemacht hat. Er hat sich auf der ganzen Linie keinesfalls wie ein Detektiv benommen. Er ahnt aber auch, daß ihm keine unmittelbare Gefahr droht, es sei denn, Perry Clifton würde ihn nicht finden. Doch an diese Möglichkeit wagt Dicki nicht zu denken.
Der Mann mit der Narbe ist bereits an der Tür. Fast hat es den Anschein, als sei er mit einem Male gar nicht mehr zufrieden mit seiner Heldentat. Ein kurzes Zögern, doch dann öffnet er entschlossen die Tür.
„Soll ich das Licht brennen lassen?“ fragt er.
Doch Dicki blickt ihn nur schweigend und voller Trotz an. Er hört, wie der Mann leise die Tür schließt, wie er den Schlüssel herauszieht und wie sich das Geräusch seiner Schritte verliert.
Dicki bleibt mit sich allein.
Seit dreißig Minuten sucht Perry Clifton nach Dicki Miller. Hat es ihn in den ersten Minuten nicht sonderlich beeindruckt, daß er Dicki nicht gleich fand, so steigt Perrys Unruhe doch in zunehmendem Maße, je länger er nach Dicki vergeblich sucht und ruft. Längst hat er alle auf seiner Etage liegenden Räume untersucht. Auch in die oberen Stockwerke ist der Detektiv gestiegen, und es hat ihm wenig Schwierigkeiten bereitet, anhand der Spuren festzustellen, daß Dicki den ehemaligen Rittersaal betreten hatte. Doch wohin führte sein Weg von hier aus?
Wieder
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