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Perry Clifton und das Geheimnis der weißen Raben

Perry Clifton und das Geheimnis der weißen Raben

Titel: Perry Clifton und das Geheimnis der weißen Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ecke
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Zeit überlegt Dicki Miller, was er machen soll. Gerade als ihm Jamesberry das Lied der Zigeunerin Zohita vorspielen will, wird er in die Küche gerufen, und Dicki muß allein bleiben. Einige Minuten lang zupft er an Paganinis Gitarre herum und versucht eine Melodie zusammenzubekommen. Doch als das gar nicht gelingen will, legt er das Instrument wieder beiseite.
    Er weiß später nicht mehr zu erklären, wie er ausgerechnet auf den Gedanken gekommen ist, einen Spaziergang in die oberen Schloßregionen zu unternehmen. So steigt er die breiten, steinernen Stufen empor. Erster Stock… zweiter Stock. Zwischen diesem und dem dritten gibt es ein kleines rundes Fenster, das statt Glas ein schmiedeeisernes Gitter auf weist. Dicki gelingt es, seinen Kopf durchzuzwängen und einen Blick auf den Hof zu werfen.
    „Hallo!“ ruft er, als er weit unter sich Tommy Lenderson erkennt, der mit dem Waschen des Fords beschäftigt ist. Lenderson winkt zurück. Dann betritt Dicki den Gang des dritten Stockwerks. Tiefe Stille herrscht, sobald er stehenbleibt und der Hall seiner festen Schritte verstummt. Da jedoch am hellen Tag so manches seinen Schrecken verliert, spürt auch Dicki trotz des nur dämmrigen Lichtes keine Furcht. Entschlossen steuert er auf eine anscheinend angelehnte riesige Doppeltür zu. Die Ritzen der kunstvollen Ornamente an der Tür sind voller Staub. Auch auf der eisernen Klinke liegt eine dicke Staubschicht. Dicki versucht den rechten Flügel mit dem Fuß aufzustoßen. Der Schrecken fährt ihm siedendheiß durch alle Glieder, als die Tür mit einem lauten Kreischen zurückweicht. Doch er beruhigt sich schnell wieder, als sein staunender Blick auf einen Saal von der Größe einer mittleren Turnhalle fällt. Dumpfer, fast modriger Geruch schlägt ihm entgegen und läßt in ihm die Erinnerung an den Trödelladen von Jan Krenatzki wachwerden 1 , in dem es ganz genauso roch. Spinnweben, die den Umfang von Bettüchern haben, verdecken Ecken und Nischen. Der Saal enthält kein einziges Möbelstück, dafür zieren einige große Ölbilder die Wandteile zwischen den zehn Fenstern. Durchweg Männer, die unter einer Staubschicht ernst, teils auch grimmig auf Dicki herabblicken. Sie sind alle in prunkvolle Gewänder oder Rüstungen gekleidet und machen den Eindruck mächtiger, erfolgrei-dier Herren ihrer Zeit.
    In Dickis Phantasie beginnt sich der Saal zu füllen. Männer in reichverzierten Wämsern und Umhängen, mit klirrenden Schwertern an der Seite, sitzen an einer mit den Spezialitäten aus Küche und Keller vollbepackten Tafel. Damen in großen Roben und mit langen Schleppen unterhalten sich, und Pagen und Lakaien reichen Wein und andere Getränke in kostbaren, schöngeschliffenen Gläsern herum.
    Langsam durchquert Dicki den Saal, um durch eines der vom Schmutz fast blinden Fenster zu sehen. Seine Schritte wirbeln kleine Staubwolken auf und hinterlassen deutliche Spuren auf dem sicher seit Monaten unberührten Fußboden. Eine große Spinne flüchtet panikartig vor den herannahenden Schuhen die Wand hinauf.
    Dicki versucht das Fenster zu öffnen, muß dieses Unterfangen jedoch bald wieder aufgeben, da sich der altmodische Fensterwirbel nicht bewegen läßt.
    In diesem Augenblick beschließt Dicki, seine Entdeckerlust auch auf die anderen Räumlichkeiten des dritten Stockes auszudehnen.
    Er wendet sich um — und erstarrt. Die Kälte der Angst beginnt in ihm hochzukriechen. In der geöffneten Tür steht ein Mann. Dicki hat ihn noch nie in seinem Leben gesehen. Er weiß nicht, daß dieser Mann ihm seit zwanzig Minuten wie ein Schatten gefolgt ist und jede seiner Bewegungen beobachtet hat.
    Der Mann steht unter der Tür und — lächelt. Er ist ungefähr vierzig Jahre alt und von untersetzter, stämmiger Figur. Er trägt einen dunkelblauen, zweireihigen Anzug mit hellen Nadelstreifen. Weder Anzugstoff noch Muster noch Schnitt sind modern, und bei näherem Hinsehen kann man die dünnen und abgeschabten Stellen an Ellenbogen und Kragen erkennen. Das Haar des Mannes, das bereits vereinzelte graue Fäden aufweist, ist von einem rötlichen Blond und an den Schläfen stark gelichtet. Das auffälligste Merkmal seiner Erscheinung ist die scharfgezackte Narbe, die vom linken Auge bis zum Mundwinkel reicht.
    Doch Dicki sieht nicht auf die Narbe, das Haar oder auf die abgewetzten Stellen des Anzugs. Entsetzt hängen seine Augen an dem Gegenstand, den der Fremde unter den linken Arm geklemmt hält. Es ist ein weißer Rabe…
    „Hallo,

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