Perry Clifton und das Geheimnis der weißen Raben
läuft Perry von Zimmer zu Zimmer. Doch seine Rufe nach Dicki bleiben unbeantwortet. Cliftons Unbehagen steigt von Minute zu Minute. Jetzt hat er den ersten Stock wieder erreicht. Noch einmal will er einen Blick in die eigenen Räume werfen, als er in der Halle ein schepperndes Geräusch hört. Mit wenigen Sätzen ist Perry Clifton an der Brüstung, über die er in die Halle sehen kann. „Hallo, Sie!“ ruft er dem fremden Mann zu, der gerade auf den zur Küche führenden Gang zugeht.
„Ja, Sir?“ Der Mann wendet sich um, und Perry erkennt ein Gesicht, das von einer langen Narbe verunziert ist. „Meinen Sie mich, Sir?“ fragt der Mann mit einer tiefen Stimme.
„Haben Sie zufällig meinen Neffen Dicki gesehen?“ Perry Clifton stößt die Frage hastig hervor, während er sich langsam der Treppe nähert.
„Nein, Sir“, erwidert der Mann noch immer gleichbleibend ruhig, „ich habe Ihren Neffen Dicki nicht gesehen. Ich kenne ihn gar nicht.“
Perry stutzt. Ein eigenartiges Gefühl durchströmt ihn. Ein Gefühl, das er sich nicht erklären kann. Der Fremde gleicht so wenig einem Hausdiener wie einem Butler oder Gärtner. „Sind Sie nicht Paul Kelly?“ fragt Perry, sich an den Namen erinnernd, den ihm Sir Douglas genannt hatte.
„Nein, Sir, mein Name ist Spencer Freeman.“
Noch bevor sich Perry Clifton von seiner Verblüffung erholen kann, ist der Fremde, der sich Spencer Freeman nannte, hinter der Tür verschwunden. Wie hatte Lady Pamela gesagt? „Kümmern Sie sich um Spencer Freeman!“ Perry hat den Namen nicht auf der Liste gefunden, die ihm Sir Douglas aufgestellt hatte.
Drei, vier Stufen auf einmal nehmend, springt er die Treppe zur Halle hinunter. Sein Atem geht stoßweise, als er die Tür zum Küchengang aufreißt. Niemand ist zu sehen. Sechs, nein sieben Türen führen von diesem Gang ab, bevor man am Ende auf die weiträumige Küche stößt. Jede Tür probiert Perry, vier sind verschlossen. In der Küche sitzt Jamesberry auf einem Holzhocker und schneidet Kartoffeln in kleine Würfel. Als Clifton die Tür aufreißt, fällt er vor Schreck fast um.
„W..wa .. was ist denn los, Sir?“ stottert er, während er zitternd die Schüssel auf den Tisch stellt.
„War hier eben ein Mann, Jamesberry?“ keucht Perry Clifton.
„Ein Mann? Was für ein Mann, Sir? Hier ist seit einer Stunde niemand gewesen.“ Dabei schüttelt und nickt er abwechselnd mit dem Kopf, während er sich seine Hände an der Hose abwischt. „Ist was geschehen? Sie sind so aufgeregt!“
„Dicki ist verschwunden. Spurlos verschwunden. Ich habe überall nachgesehen. In jedem Stockwerk. Jetzt eben war ein Mann in der Halle, den ich noch nie gesehen habe. Er hatte eine Narbe im Gesicht und eine tiefe Stimme. Er nannte sich Spencer Freeman. Wer ist dieser Mann, Jamesberry?“
Perry streicht sich das wirre Haar aus der Stirn und versucht ein wenig Ruhe in seine Gedanken zu bringen. Jamesberry macht ein Gesicht, als habe ihn jemand nach der Adresse vom Mann im Mond gefragt. „Hier gibt es niemand, der eine Narbe im Gesicht hat, auch niemand mit einer tiefen Stimme, der Spencer Freeman heißt.“ Und in sanftem Tonfall säuselt er, mit dem Zeigefinger drohend: „Sie haben schlecht geträumt, Mister Clifton, sicherlich haben Sie ein schlechtes Träumchen gehabt! Jamesberry kennt das.“
Perry Clifton tritt mit einem Schritt auf Jamesberry zu und packt diesen am Hemd, bevor er zurückweichen kann. Und dann zischt er ihm wütend zu: „Ihre Scherze können Sie mit den Schafen draußen auf der Weide machen oder meinetwegen auch mit dem Osterhasen. Gehen Sie sofort hinüber in den Südflügel und holen Sie Sir Douglas in die Halle. Aber dalli, sonst haben Sie heute nacht ein schlechtes Träumchen!“ Er gibt dem völlig verdatterten Jamesberry einen Stoß, daß dieser sich am Tisch festhalten muß. Doch er scheint keineswegs beleidigt zu sein. Mit einem mitleidigen Lächeln macht er eine Verbeugung und verschwindet. An der Tür wendet er sich noch einmal um:
„Jamesberry ist nicht nachtragend. Ich gehe.“
Zuerst betritt Sir Douglas Everbridge die Halle. Ihm fast auf dem Fuß folgt Sir Henry. Beide machen einen ziemlich verstörten Eindruck.
„Was ist geschehen, Mister Clifton? Jamesberry hat eine Menge unzusammenhängendes Zeug gefaselt.”
Perry Clifton, der sich wieder ganz in der Gewalt hat, antwortet mit ruhiger, sachlicher Stimme:
„Mein Neffe Dicki ist verschwunden!“
Douglas Everbridge greift sich erschrocken an
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